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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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deines Kulturkreises seit Jahrtausenden nicht mehr kennen. Wenn Gorillas sich entsprechend ausdrücken könnten, würden sie sagen, daß für sie die Familie wie eine Hand ist, von der sie die Finger sind. In ihrem Bewußtsein sind sie in erster Linie eine Familie; das Bewußtsein des Einzelnen von sich selbst ist viel weniger ausgeprägt. Im Zoo gab es zwar andere Gorillas, aber keine Familie. Fünf abgetrennte Finger machen noch keine Hand.
    Ich dachte auch über unsere Ernährung nach. Die Kinder der Menschen träumen von einem Land, in dem die Berge aus Eiscreme, die Bäume aus Lebkuchen und die Steine Bonbons sind. Für einen Gorilla ist Afrika ein solches Land. Dort gibt es überall wunderbare Dinge zu essen. Man denkt nie: »Jetzt muß ich aber etwas essen.« Weil es überall etwas zu essen gibt, ißt man geradezu unbewußt, so, wie man Luft einatmet. Ja, man denkt an das Essen gar nicht als an eine eigenständige Tätigkeit. Essen ist wie eine wunderbare Musik, welche die anderen Verrichtungen des Tages im Hintergrund begleitet. Erst als im Zoo zweimal am Tag große Mengen geschmacklosen Futters in unsere Käfige geworfen wurden, wurde für mich daraus eine bewußte Tätigkeit.
    Indem ich über solche kleinen Dinge nachdachte, begann, ohne daß ich es merkte, mein inneres Leben.
    Obwohl ich natürlich davon nichts ahnte, forderte die große wirtschaftliche Depression in allen Bereichen des amerikanischen Lebens ihren Tribut. Überall mußten die Zoos sparen und die Zahl der gehaltenen Tiere verringern. Ich glaube, viele Tiere wurden einfach eingeschläfert, denn es gab keinen privaten Markt für Tiere, deren Haltung kostspielig war, und die weder exotisch noch aufregend waren. Eine Ausnahme bildeten natürlich die großen Raubkatzen und die Affen.
    Kurz gesagt, ich wurde an den Besitzer einer Wandermenagerie verkauft, der einen leeren Wagen zu besetzen hatte. Ich war ein großer, eindrucksvoller junger Gorilla und damit zweifellos langfristig eine vernünftige Investition.
    Vielleicht glaubst du, es sei egal, in welchem Käfig man lebt, aber das stimmt überhaupt nicht. Nimm zum Beispiel den Kontakt mit den Menschen. Im Zoo wußten wir Gorillas alle, daß uns Menschen besuchten. Sie waren für uns eine Attraktion, eine Sehenswürdigkeit, so wie für eine Menschenfamilie Vögel oder Eichhörnchen im Garten eine Sehenswürdigkeit sind. Uns war klar, daß diese seltsamen Wesen uns ansahen, aber wir dachten nicht im entferntesten daran, daß sie nur zu diesem Zweck gekommen waren. In der Menagerie dagegen begriff ich den wahren Sachverhalt sehr schnell.
    Meine Erziehung in dieser Hinsicht begann gleich am ersten Tag, an dem ich ausgestellt wurde. Einige Besucher kamen zu meinem Wagen und begannen, zu mir zu sprechen. Entgeistert starrte ich sie an. Im Zoo hatten die Besucher miteinander gesprochen, aber nie mit uns. »Vielleicht bringen diese Leute etwas durcheinander«, sagte ich mir. »Vielleicht halten sie mich für einen der ihren.« Mein Erstaunen und meine Verwirrung wuchsen, als nacheinander alle Besucher, die meinen Wagen besuchten, sich auf dieselbe Weise verhielten. Ich wußte einfach nicht, was ich davon halten sollte.
    Ohne mir darüber bewußt zu sein, versuchte ich an jenem Abend zum ersten Mal, alle meine Geisteskräfte zur Lösung eines Problems aufzubieten. War es möglich, so fragte ich mich, daß der Ortswechsel auf irgendeine Weise auch mich verändert hatte? Aber ich fühlte mich überhaupt nicht anders, und auch mein Aussehen hatte sich mit Sicherheit nicht geändert. Vielleicht, dachte ich, gehörten die Leute, die mich an diesem Tag besucht hatten, zu einer anderen Art als die, die in den Zoo gekommen waren. Aber auch davon war ich nicht überzeugt. Die beiden Gruppen waren in jeder Hinsicht gleich, mit nur einer Ausnahme: Die einen Besucher unterhielten sich untereinander, die anderen sprachen mit mir. Sogar das, was sie sagten, hörte sich gleich an. Es mußte an etwas anderem hegen.
    Am folgenden Abend wandte ich mich dem Problem erneut zu, und ich argumentierte diesmal so: Wenn ich mich nicht geändert hatte und die Besucher sich nicht geändert hatten, dann mußte etwas anderes sich geändert haben. Ich war derselbe, sie waren dieselben, also war etwas anderes nicht dasselbe. So gesehen, gab es auf meine Frage nur eine Antwort: Im Zoo hatte es viele Gorillas gegeben, hier gab es nur mich. Dieser Schluß erschien mir zwingend, aber ich konnte nicht verstehen, warum Besucher sich vor
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