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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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vielen Gorillas anders als vor nur einem Gorilla verhalten sollten.
    Am nächsten Tag achtete ich verstärkt darauf, was die Besucher zu mir sagten. Ich stellte bald fest, daß zwar jeder etwas anderes sagte, daß ein Laut aber ständig wiederkehrte, und dieser Laut schien dazu bestimmt, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Natürlich hatte ich keinerlei Vermutung, was der Laut bedeuten mochte. Schließlich hatte ich keinen Stein von Rosette.
    Der Wagen rechts von mir war mit einer Schimpansin mit Kind belegt, und ich hatte bereits beobachtet, daß die Besucher zu ihr in der gleichen Weise sprachen wie zu mir. Jetzt fiel mir auf, daß die Besucher, wenn sie die Aufmerksamkeit der Schimpansin erregen wollten, einen anderen Laut äußerten als bei mir. Vor ihrem Wagen riefen sie »Zsa-Zsa! Zsa-Zsa!«, vor meinem Wagen »Goliath! Goliath!«
    Durch kleine Schritte wie diesen erkannte ich bald, daß die Laute sich auf geheimnisvolle Weise auf die Schimpansin und auf mich als Individuen bezogen. Du hast von Geburt an einen Namen und glaubst wahrscheinlich, sogar ein Schoßhund wisse, daß er einen Namen habe, was übrigens nicht stimmt. Deshalb kannst du dir nicht vorstellen, welche Revolution der Wahrnehmung der Erwerb eines Namens in mir auslöste. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, daß ich in diesem Moment erst eigentlich geboren wurde - als eigenständige Person. Ich glaube, es gab einmal eine Zeit, in der der Verleihung eines Namens bei der Taufe eine ähnliche Bedeutung zukam.
    Von der Erkenntnis, daß ich einen Namen hatte, zu der Erkenntnis, daß alles einen Namen hatte, war es kein großer Schritt. Vielleicht glaubst du, ein eingesperrtes Tier habe wenig Gelegenheit, die Sprache seiner Besucher zu lernen, aber das stimmt nicht. Menagerien werden oft von Familien besucht, und ich merkte bald, daß Eltern ihre Kinder unaufhörlich in der Kunst des Sprechens unterrichten: »Schau, Johnny, da ist eine Ente! Sag mal Ente. Ente! Weißt du, wie die Ente macht? Die Ente macht quak, quak!«
    Nach wenigen Jahren konnte ich den meisten Unterhaltungen in Hörweite folgen, aber mit dem Verständnis wuchs auch die Verwirrung. Ich wußte jetzt, daß ich ein Gorilla war und Zsa-Zsa eine Schimpansin. Außerdem wußte ich, daß die Bewohner der Wagen Tiere waren. Aber ich verstand noch nicht, was genau ein Tier ausmachte. Unsere menschlichen Besucher unterschieden klar zwischen sich und den Tieren, aber ich konnte nicht herausfinden warum. Zwar glaubte ich zu verstehen, was uns zu Tieren machte, aber ich begriff nicht, warum sie keine Tiere waren.
    Die Umstände unserer Gefangenschaft waren mir kein Geheimnis mehr, denn ich hatte oft gehört, wie sie Kindern erklärt worden waren. Alle Tiere der Menagerie hatten ursprünglich an einem Ort gelebt, der Wildnis hieß und der sich über die ganze Welt erstreckte, was immer mit »Welt« gemeint war. Man hatte uns aus der Wildnis hierher gebracht, weil die Menschen uns aus irgendeinem seltsamen Grund interessant fanden. Man hielt uns in Käfigen, weil wir »wild« und »gefährlich« waren - Wörter, mit denen ich nichts anfangen konnte, die sich aber offensichtlich auf Eigenschaften bezogen, die ich verkörperte. Ich will damit sagen, daß Eltern, die ihren Kindern ein besonders wildes und gefährliches Tier zeigen wollten, auf mich deuteten. Zwar zeigten sie auch auf die großen Raubkatzen, aber da ich eine Raubkatze nie außerhalb eines Käfigs gesehen hatte, half mir das nicht weiter.
    Insgesamt stellte das Leben in der Menagerie gegenüber dem Leben im Zoo eine Verbesserung dar, weil es nicht so bedrückend langweilig war. Ich dachte nicht im Entferntesten daran, meinen Haltern zu grollen. Sie konnten sich zwar freier bewegen, schienen aber genauso an die Menagerie gebunden wie wir anderen, und ich hatte ja keine Ahnung, daß sie draußen ein ganz anderes Leben führten. Der Gedanke, man könnte mich unrechtmäßig eines angeborenen Rechts beraubt haben, etwa des Rechts, zu leben, wie ich wollte, lag mir so fern wie das Boylesche Gesetz.
    Es vergingen vielleicht drei oder vier Jahre. Dann, an einem regnerischen Tag, als die Menagerie verlassen dalag, bekam ich einen eigenartigen Besuch: einen Mann, der mir damals alt und verschrumpelt erschien, obwohl er, wie ich später erfuhr, erst um die Vierzig war. Sein Auftreten war von Anfang an anders. Er blieb am Eingang zur Menagerie stehen, überflog der Reihe nach alle Wagen und kam dann geradewegs auf mich zu. An dem anderthalb Meter
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