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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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ihn zuerst gehalten hatte. Er hatte ein langes, dunkles und knochiges Gesicht; in seinen Augen brannte ein seltsames Feuer, und die Lippen hatte er wie in bitterer Freude zusammengepreßt. Zuletzt nickte er, genau wie beim ersten Mal, und sagte:
    »Ja, ich hatte recht. Du bist nicht Goliath. Du bist Ismael.«
    Und als ob damit alles Wichtige endgültig gesagt sei, drehte er sich wieder um und ging weg.
    Und wieder war ich wie vom Donner gerührt - aber diesmal war der Grund ein Gefühl tiefster Erleichterung, denn ich war von der Vergessenheit erlöst worden. Mehr noch, der Irrtum, aufgrund dessen ich so viele Jahre als Betrüger gelebt hatte, ohne es zu wissen, war endlich korrigiert worden. Ich war eine ganze Person geworden - nicht wieder, sondern überhaupt zum ersten Mal.
    Die Neugier auf meinen Retter verzehrte mich. Ich brachte ihn nicht mit dem Umzug von der Menagerie in den reizenden Pavillon in Verbindung, denn selbst jener so einfache wie oft falsche Schluß post hoc, ergo propter hoc war mir noch unbekannt. Für mich war der Mann ein überirdisches Wesen. Für mein jeglicher Mythologie gegenüber empfängliches Bewußtsein war er der Anfang einer Gotteserfahrung. Zweimal war er kurz in meinem Leben aufgetaucht - und beide Male hatte er mich mit einer einzigen Bemerkung verwandelt. Ich suchte nach der Bedeutung, die diesen Erscheinungen zugrunde lag, stieß aber nur auf Fragen. Hatte der Mann, als er in die Menagerie gekommen war, nach Goliath gesucht oder nach mir? War er gekommen, weil er gehofft hatte, ich sei Goliath, oder weil er geargwöhnt hatte, ich sei nicht Goliath? Wie hatte er mich in meiner neuen Umgebung so schnell finden können? Ich hatte keine Vorstellung, was Menschen alles wußten; wenn es also Allgemeinwissen war, daß ich in der Menagerie zu finden war (wie es der Fall zu sein schien), war es dann genauso Allgemeinwissen, daß ich jetzt hier zu finden war? Trotz dieser unbeantwortbaren Fragen blieb die überwältigende Tatsache bestehen, daß dieses unheimliche Wesen mich zweimal aufgesucht hatte, um mich auf nie zuvor dagewesene Weise anzusprechen - als Person. Ich war überzeugt, daß er jetzt, da er die Frage meiner Identität abschließend geklärt hatte, endgültig aus meinem Leben verschwinden würde. Was hätte er noch tun können?
    Natürlich weißt du, daß all diese Überlegungen Unsinn waren. Trotzdem ist die Wahrheit, die ich erst später erfuhr, nicht viel weniger phantastisch.
    Mein Wohltäter war ein reicher jüdischer Kaufmann aus dieser Stadt, und er hieß Walter Sokolow. An dem Tag, an dem er mich in der Menagerie entdeckte, hatte er einen Spaziergang im Regen gemacht, versunken in düstere Selbstmordgedanken, die ihn heimsuchten, seit er vor ein paar Monaten die Nachricht erhalten hatte, daß seine ganze Familie den Holocaust der Nazis nicht überlebt hatte. Der Spaziergang führte ihn zu einem Volksfest am Stadtrand, und er betrat das Gelände ohne besonderes Ziel. Da die meisten Buden und Karussells wegen des Regens geschlossen waren, lag eine Melancholie über dem Gelände, die gut zu seiner Stimmung paßte. Zuletzt kam er zu der Menagerie, deren Hauptattraktionen durch eine Reihe schauerlicher Gemälde angepriesen wurden. Eines dieser Gemälde war noch schauerlicher als der Rest und zeigte den Gorilla Goliath, der drohend den zerschmetterten Körper eines afrikanischen Eingeborenen schwenkte. Vielleicht dachte Walter Sokolow, ein Gorilla namens Goliath sei ein passendes Symbol für den nationalsozialistischen Riesen, der damals dabei war, das Volk Davids zu zerschmettern, auf jeden Fall beschloß er, daß es ihm Genugtuung bereiten würde, sich ein solches Ungeheuer hinter Gittern anzusehen.
    Er ging also hinein und trat vor meinen Wagen. Doch als er mir in die Augen sah, merkte er bald, daß ich kein Verwandter des blutrünstigen Monsters auf dem Gemälde war und auch mit der Geißel seines Volkes nichts zu tun hatte. Er stellte fest, daß es ihm keine Genugtuung verschaffte, mich hinter Gittern zu sehen. Statt dessen beschloß er in einer närrisch-idealistischen Geste der Schuld und des Trotzes, mich aus meinem Gefängnis zu retten und - welch schrecklicher Gedanke - zu einem Ersatz für seine Familie zu machen, die er aus dem Gefängnis in Europa nicht hatte retten können. Der Besitzer der Menagerie war über den Verkauf erfreut; er war sogar bereit, den Wärter, der mich seit meiner Ankunft versorgt hatte, an Mr. Sokolow zu vermieten. Der Besitzer war
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