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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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untersuchte ihn kurz und begann dann daran zu knabbern. Träge sah er mich an. Dann sagte er: »Du hast meine Geschichte gehört. Für welches Thema bin ich deiner Meinung nach am besten als Lehrer geeignet?«
    Ich sah ihn verständnislos an und sagte, daß ich es nicht wisse.
    »Natürlich weißt du es. Mein Thema ist die Gefangenschaft.«
    »Die Gefangenschaft?«
    »Richtig.«
    Ich schwieg eine Weile und sagte dann: »Ich überlege gerade, was das mit der Rettung der Welt zu tun hat.«
    Ismael dachte nach. »Welcher Teil der Menschheit will die Welt zerstören?«
    »Zerstören? Soviel ich weiß, will niemand die Welt zerstören.«
    »Und doch zerstört ihr sie, ihr alle. Ihr alle tragt täglich zur Zerstörung der Welt bei.«
    »Stimmt.«
    »Warum hört ihr nicht damit auf?«
    Ich zuckte die Schultern. »Offengestanden, wir wissen es selbst nicht.«
    »Ihr seid die Gefangenen einer Zivilisation, die euch mehr oder weniger zwingt, die Welt zu zerstören, um zu leben.«
    »Ja, so scheint es.«
    »Also. Ihr seid selbst Gefangene - und ihr habt die ganze Welt gefangengenommen. Darum geht es also - um eure Gefangenschaft und um die Gefangenschaft der Welt.«
    »Stimmt. So habe ich noch nie darüber nachgedacht.«
    »Und du persönlich bist doch auch ein Gefangener, oder?«
    »Inwiefern?«
    Ismael lächelte und zeigte dabei zwei lange Reihen elfenbeinfarbener Zähne. Ich hatte bis dahin nicht gewußt, daß er lächeln konnte.
    Ich sagte: »Ich habe das Gefühl, ein Gefangener zu sein, aber ich kann mir dieses Gefühl nicht erklären.«
    »Vor einigen Jahren - du mußt damals noch ein Kind gewesen sein, deshalb erinnerst du dich vielleicht nicht daran - hatten viele junge Menschen dieses Landes dasselbe Gefühl. Sie unternahmen den aufrichtig gemeinten, aber schlecht organisierten Versuch, aus ihrer Gefangenschaft auszubrechen, aber sie scheiterten, weil sie das Gitter des Käfigs nicht finden konnten. Wenn du nicht weißt, worin deine Gefangenschaft besteht, verliert der Wille auszubrechen an Stoßkraft und erlahmt.«
    »Genau so geht es mir auch.«
    Ismael nickte.
    »Aber noch einmal: Was hat das mit der Rettung der Welt zu tun?«
    »Die Welt wird in der Gefangenschaft der Menschen nicht mehr lange überleben. Muß ich das erklären?«
    »Nein. Zumindest mir nicht.«
    »Ich glaube, viele von euch würden die Welt gerne aus der Gefangenschaft befreien.«
    »Das glaube ich auch.«
    »Was hindert sie daran?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Das hindert sie: Sie finden das Gitter des Käfigs nicht.«
    »Ja«, sagte ich. »Ach so.« Dann: »Was tun wir jetzt?«
    Ismael lächelte wieder. »Ich habe dir eine Geschichte erzählt, die erklärt, warum ich hier bin. Vielleicht tust du dasselbe?«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich meine, vielleicht erzählst du mir jetzt eine Geschichte, die erklärt, warum du hier bist.«
    »Ach so«, sagte ich. »Laß mich einen Augenblick nachdenken.«
    »Nimm dir soviel Zeit, wie du willst«, erwiderte er ernst.
    7
    »Als ich aufs College ging«, sagte ich schließlich, »mußte ich in Philosophie einmal einen Aufsatz schreiben. Das Thema weiß ich nicht mehr genau - es hatte mit Erkenntnistheorie zu tun. Ich schrieb in etwa das Folgende: Die Nazis hatten den Krieg nicht verloren, sondern gewonnen, und waren mächtiger denn je. Sie eroberten die ganze Welt und eliminierten Juden, Zigeuner, Schwarze, Inder und Indianer. Dann, als sie damit fertig waren, eliminierten sie die Russen, Polen, Böhmen, Mähren, Bulgaren, Serben und Kroaten - alle Slawen. Dann taten sie dasselbe mit den Polynesiern, Koreanern, Chinesen und Japanern - mit allen asiatischen Völkern. Es dauerte lange, sehr lange, aber als alles vorbei war, war jeder Bewohner der Erde ein hundertprozentiger Arier, und die Menschen waren alle sehr, sehr glücklich.
    In den Schulbüchern wurde natürlich von allen Rassen nur noch die arische genannt, von den Sprachen nur noch die deutsche, von den Religionen nur der Hitlerismus und von den politischen Systemen nur der Nationalsozialismus. Etwas anderes gab es ja nicht mehr. Und einige Generationen später hätte sowieso niemand mehr etwas anderes schreiben können, selbst wenn er gewollt hätte, weil er von nichts anderem gewußt hätte.
    Eines Tages unterhielten sich zwei Studenten der Universität Neu-Heidelberg in Tokio. Beide waren auf die landläufige arische Art schön, aber einer von ihnen sah bedrückt und unglücklich aus. Er hieß Kurt. >Was fehlt dir, Kurt?< fragte sein Freund. >Warum
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