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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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sprechen. Zwei Fremde können sich mühelos durch einen einzigen Blick gegenseitiges Interesse bekunden. Seine Augen sprachen auch, und ich verstand, was sie sagten. Meine Beine wurden weich wie Gelee, und ich schaffte es gerade noch zum Sessel.
    »Wie ist das möglich?« fragte ich, und ich wagte nicht, die Worte laut auszusprechen.
    »Na und?« erwiderte er genau so stumm. »Es ist eben so, und damit basta.«
    »Also du -«, stotterte ich. »Du bist...«
    Ich stellte fest, daß ich das Wort nicht aussprechen konnte.
    Nach einem Augenblick nickte er, wie in Anerkennung meiner Schwierigkeit. »Ich bin der Lehrer.«
    Wir starrten einander eine Weile an, und mein Kopf war vollkommen leer.
    Dann sagte er: »Brauchst du etwas Zeit, dich zu erholen?«
    »Ja!« rief ich, zum ersten Mal laut.
    Er neigte seinen schweren Kopf zur Seite und beäugte mich neugierig. »Hilft es dir, wenn ich dir meine Geschichte erzähle?«
    »Ganz bestimmt«, sagte ich. »Aber sage mir doch bitte zuerst deinen Namen - wenn du willst.«
    Er starrte mich einen Augenblick stumm und, soweit ich das damals beurteilen konnte, ausdruckslos an. Dann fuhr er fort, als ob ich nichts gesagt hätte.
    »Ich wurde irgendwo in den Wäldern im westlichen Äquatorialafrika geboren«, sagte er. »Ich habe nie versucht herauszufinden, wo genau, und ich sehe auch jetzt keinen Grund, warum ich dies tun sollte. Kennst du zufällig die Methoden von Frank und Osa Johnson?«
    Ich sah ihn verwirrt an. »Frank und Osa Johnson? Ich kenne nicht einmal die Namen.«
    »Sie waren in den dreißiger Jahren berühmte Tiersammler. Mit Gorillas verfuhren sie folgendermaßen: Wenn sie auf eine Gruppe Gorillas stießen, erschossen sie die Weibchen und sammelten alle Kinder ein, die in der Nähe waren.«
    »Wie schrecklich«, sagte ich, ohne nachzudenken.
    Der Gorilla zuckte die Schultern. »Ich kann mich daran nicht mehr erinnern - obwohl ich Erinnerungen an noch frühere Zeiten besitze. Johnson auf jeden Fall verkaufte mich an einen Zoo in einer Kleinstadt im Nordosten - ich weiß nicht an welchen, da mir solche Dinge damals noch nicht bewußt waren. Dort lebte ich einige Jahre und wuchs heran.«
    Er machte eine Pause und knabberte geistesabwesend an seinem Zweig, wie um seine Gedanken zu sammeln.
    3
    Tiere, die an solchen Orten eingesperrt sind - fuhr er schließlich fort -, denken fast immer mehr nach als ihre Artgenossen in der Wildnis. Selbst die schwerfälligsten unter ihnen spüren unwillkürlich, daß mit ihrem Leben etwas nicht stimmt. Wenn ich sage, daß sie mehr nachdenken, meine ich damit nicht, daß sie zu logischem Denken imstande sind. Aber den Tiger, der wütend in seinem Gehege hin- und herläuft, treibt etwas an, das ein Mensch mit Sicherheit als Gedanken identifizieren würde. Und dieser Gedanke ist eine Frage: Warum? »Warum, warum, warum?« fragt der Tiger sich Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr, während er hinter dem Gitter seines Käfigs seine endlose Runde dreht. Er kann nicht über die Frage nachdenken oder andere Fragen stellen. Wenn du ihn fragen könntest: »Warum was?«, könnte er dir darauf nicht antworten. Trotzdem brennt die Frage wie eine unlöschbare Flamme in seinem Kopf und verursacht dort einen sengenden Schmerz, der erst abklingt, wenn das Tier in jene endgültige Lethargie verfällt, die der Zoobesitzer als die unumkehrbare Zurückweisung des Lebens erkennt. Natürlich stellt ein Tiger, der in seiner normalen Umgebung lebt, sich diese Frage nicht.
    Bald begann auch ich zu fragen: Warum? Da ich dem Tiger in neurologischer Hinsicht weit überlegen bin, konnte ich über die Bedeutung der Frage nachdenken, zumindest auf rudimentäre Weise. Ich erinnerte mich an ein anderes Leben, das für die, die es führten, interessant und angenehm war. Im Unterschied dazu war mein Leben im Zoo quälend langweilig und uninteressant. Ich versuchte mit meiner Frage also eine Antwort darauf zu finden, warum das Leben in zwei Hälften geteilt sein sollte: in eine interessante und angenehme Hälfte, und in eine langweilige und unangenehme. Ich hatte kein Bewußtsein von mir als Gefangenem, und ich wußte nicht, daß jemand mich daran hinderte, ein interessantes und angenehmes Leben zu führen.
    Als ich keine Antwort auf meine Frage erhielt, begann ich über die Unterschiede zwischen den beiden Leben nachzudenken. Der wichtigste Unterschied war, daß ich in Afrika Mitglied einer Familie gewesen war - einer Art Familie freilich, wie sie die Angehörigen
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