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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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Waldgrundstück lebte, nachdem seine Frau ein paar Jahre zuvor gestorben war. Der Mann wurde verhaftet, und als Beamte sein Haus durchsuchten, entdeckten sie in einer Kammer auf dem Dachboden seines Hauses einen Stapel Pornomagazine. Sievers leugnete, Alina etwas angetan zu haben, doch am nächsten Morgen fand man ihn erhängt in seiner Zelle, was als eindeutiges Schuldeingeständnis galt.
    Zumal Rudi Grimmer, der ehemalige Dorfpolizist, noch etwas Ungeheuerliches von seinen Kollegen erfahren hatte: dass Sievers seinen Lehrerberuf vor vielen Jahren aufgeben musste, weil er eine minderjährige Schülerin verführt hatte. Aus diesem Grund waren er und seine Frau Hanne in unser kleines Dorf gezogen: um sich zu verstecken.
    Im Nachhinein behaupteten einige Altenwinkler, Sievers sei ihnen von Anfang an merkwürdig und falsch vorgekommen. Ich hatte ihn und seine Frau gemocht. Martin Sievers hatte sein Grundstück immer in Ordnung gehalten, es aber nicht totgepflegt wie die meisten Leute im Dorf. Er ließ Brennesselinseln stehen für die Raupen der Schmetterlinge und in seinen Bäumen nisteten seltene Vögel. Sievers wusste, dass ich Tiere mochte, und wenn ich wollte, durfte ich in seinen Garten kommen und sie beobachten. Zuletzt hatte er mir einen Siebenschläfer gezeigt, der zutraulich geworden war.
    Deshalb war das Ganze für mich besonders unverständlich und schlimm. Wenn sich das Böse hinter Normalität und Freundlichkeit versteckt, wie soll man es dann erkennen und sich davor schützen?
    Der freundliche Herr Sievers hatte Alina getötet und ihren Körper irgendwo verscharrt. In seinem Haus und auf seinem Grundstück wurde das Unterste zuoberst gekehrt, der Wald von einer Hundertschaft und Leichensuchhunden noch einmal gründlich durchkämmt – nichts. Alinas Leiche wurde nicht gefunden und die Suche nach ihr ein paar Wochen später eingestellt.
    Ich war vollkommen durch den Wind damals. Um mit dem Grauen und dem Verlust klarzukommen, reimte ich mir meine eigene Geschichte zusammen. Man hatte zwar Alinas Kleid gefunden, doch die schillernden Feenflügel waren nicht im Wohnwagen gewesen. Mit diesen Flügeln war Alina Sievers entkommen, daran glaubte ich damals fest.
    Nachdem sich Schock und Trauer gelegt hatten, ging das Leben in Altenwinkel wieder seinen gewohnten Gang. Der Schuldige hatte sich selbst gerichtet und war zu ewiger Verdammnis verurteilt. Er war (natürlich) ein Zugezogener, niemand aus dem Dorf wäre zu so einer Tat fähig gewesen. Das Böse haust in den Betonklötzen der großen Städte, nicht hier, wo jeder jeden kennt.
    Ma musste in die Psychiatrie und ihre Schwester, Tante Lotta, kehrte nach Altenwinkel zurück. Ich war froh, dass ich wieder in meinen Wald konnte. In Räumen fühle ich mich gefangen wie ein wildes Tier im Käfig. Ich kann nicht atmen, ich muss raus, dorthin, wo es keine Wände gibt, wo es nach Laub, Kiefernnadeln und harziger Rinde riecht, wo mir der Wind um die Nase weht.
    Â»Was machst du eigentlich stundenlang da draußen im Wald?«, wollte Tante Lotta von mir wissen.
    Â»Nichts«, antwortete ich. Doch dieses Nichts war ein ganzes Universum, das mir gehörte, und daran hat sich bis heute nichts geändert.
    Als Ma zurück nach Hause kam, wollte sie mir meine Streifzüge in den Wald verbieten, aber Pa war der Ansicht, die Natur könne mir bei der Bewältigung meines Verlustes behilflich sein. Sie stritten sich – und ich fand Mittel und Wege, mich davonzustehlen. Natürlich blieb meiner Mutter nicht verborgen, dass meine Hosen und T-Shirts voller Grasflecke, Harz und Kiefernadeln waren und meine Haut zerkratzt von Dornen. Aber ich tischte ihr immer ausgefeiltere Lügen auf und sie schluckte sie.
    Was wollte sie machen? Mas Kontrolle endete an der Haustür, sie konnte die Schwelle nicht überschreiten, geschweige denn, über ihren eigenen Schatten springen.
    Schon Mitternacht. Die Erinnerungen an Alina haben mich aufgewühlt und halten den Schlaf fern. Mit fast siebzehn sieht man die Dinge anders als mit zwölf und ich frage mich, was wohl hinter den Türen meines Gedächtnisses noch alles lauert.
    Der volle Mond scheint durch das Rechteck in der Dachschräge in mein Bett und erhellt das Zimmer mit seinem kalten Licht. Es wird eins … halb zwei. Ich wälze mich herum, bin zu müde und zu kaputt für das rettende Ritual, den nächtlichen Waldgang,
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