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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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zwischen den Grundstücken unserer Familien liegt, war sie die Waldfee und ich der Schrat, weil ich immer in zerbeulten Hosen herumlief und stets Kiefernnadeln im Haar hatte. Der Garten war unser magisches Reich, dort konnten wir ungestört unseren kindlichen Spielen frönen, während wir in der Schule Interesse an Klamotten, Boygroups und Jungen heucheln mussten.
    Mein Vater duldete es nicht, dass andere Kinder aus dem Dorf das Grundstück als Spielplatz nutzten, aber bei Alina und mir drückte er ein Auge zu, wahrscheinlich, weil er uns so besser unter Kontrolle hatte.
    Alina versuchte, mich davon zu überzeugen, dass es im Wald hinter dem Dorf Feen, Elfen und Einhörner gibt. »Sie leben im Verbotenen Land«, behauptete sie und grinste dabei auf eine Weise, die mich verunsicherte: Glaubte sie das wirklich oder machte es ihr Spaß, mich auf den Arm zu nehmen? Wir kicherten und es war mir egal.
    Das Verbotene Land ist der Truppenübungsplatz. Ich versicherte Alina, dass ich auf den Streifzügen mit meinem Vater noch nie eine Fee oder gar einen Elf gesehen hatte. Nur gewöhnliche Soldaten in Tarnuniformen, die auf Ziele ballerten oder am Boden herumrobbten. Aber davon wollte sie nichts hören. »Nur weil du sie nicht siehst, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt.« Das sagte sie und dabei blitzte der Schalk aus ihren blauen Augen.
    Es war Mitte September, als sie verschwand. Erst zwei Wochen zuvor hatte die Schule wieder begonnen. Alina und ich waren am späten Nachmittag im verwilderten Garten zu unserem geheimen Spiel verabredet gewesen, doch Ma hatte beim Kontrollieren meiner Hausaufgaben festgestellt, dass ich sie in Eile und schludrig erledigt hatte. Ich musste alles noch einmal schreiben. Als ich endlich fertig war und zu meiner Freundin laufen konnte, war sie nicht mehr da.
    Zuerst glaubten alle, Alina wäre in den Wald hinter den Gärten gelaufen und hätte sich verirrt. Ihre Eltern, die Polizei und das halbe Dorf suchten fieberhaft im Wald und auf den Feldern nach ihr. Der Truppenübungsplatz wurde von Polizisten mit Suchhunden und Soldaten in allen Himmelsrichtungen durchkämmt. Doch die unzähligen natürlichen Höhlen und versteckten Spalten im Muschelkalk sowie die Überreste der alten Bunkeranlagen und der Wehrmachtsstollen im Berg erschwerten die Suche nach Alina.
    Die alte Kiesgrube zwischen Altenwinkel und unserem Nachbardorf Eulenbach, die die Leute im Sommer zum Baden nutzen, wurde von Tauchern abgesucht – doch alles blieb ohne Erfolg. Es war, als wäre Alina vom Erdboden verschluckt.
    Als die beiden Polizisten zu uns nach Hause kamen, um mich über meine Freundin auszufragen, hatte ich den Ernst der Lage noch nicht einmal zur Hälfte erfasst. Die Befragung war ein Albtraum für mich. Erst nach einigem Zureden offenbarte ich unser Geheimnis und erzählte den Beamten, dass Alina sich am liebsten als Tinkerbell verkleidete und in der Schule oft träumte. Dass sie Pferdenärrin war und ihre Lieblingsfarbe Himmelblau, weil das so gut zu ihren blauen Augen passte. Dass sie für ihr Leben gern mit Buntstiften malte (Drachen, Einhörner, Feen und Bäume) und so neugierig war, dass die Antworten auf ihre vielen Fragen sie manchmal zum Heulen brachten, weil sie anders ausfielen, als sie sich erträumt hatte.
    Ich erzählte den Polizisten auch von Tinkerbells großem Talent, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen – aber all das brachte Alina nicht zurück.
    Ich war gerade erst zwölf, aber nicht blöd. Ich verstand eine Menge von dem, was nach der erfolglosen Suche von allen befürchtet wurde und was niemand in meiner Gegenwart aussprach: Der Böse Mann hatte Alina entführt, hatte ihr wehgetan und sie ermordet.
    Vage erinnere ich mich an die Panik, die damals im Dorf ausbrach. In der Altenwinkler Gerüchteküche brodelte es gewaltig, Türen wurden verriegelt und Nachbarn beäugten einander misstrauisch. Eltern fuhren ihre Kinder mit dem Auto in die Schule und ließen sie am Nachmittag nicht mehr aus dem Haus. Wenn die Dorfbewohner von meiner verschwundenen Freundin sprachen, dann war sie nur noch das »arme Ding« und ich war wütend, weil sie ihr den Namen gestohlen hatten.
    Am Abend des dritten Tages nach ihrem Verschwinden fand die Polizei Alinas hellblaues Tinkerbell-Kleid in dem aufgebockten alten Wohnwagen bei den Ponys von Martin Sievers, der zurückgezogen auf seinem
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