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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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der mich jedes Mal erdet und zu mir selbst zurückbringt.
    Tu es, sonst wirst du nie schlafen.
    Schließlich quäle ich mich aus dem Bett, ziehe mich an, schiebe die Taschenlampe in meinen Hosenbund und schlüpfe in mein Herrin-des-Waldes-Ich. Wie in Trance steige ich vom Balkon auf den Kirschbaum und klettere nach unten in den verwilderten Nachbargarten. Direkt unter meinem Balkon befindet sich der Carport, das Schlafzimmer meiner Eltern ist auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses. Ich habe also nicht zu befürchten, dass sie mich bemerken. Mit flinken Schritten laufe ich durchs taunasse Gras bis zum morschen Jägerzaun am hinteren Ende des Grundstückes. Die Angeln der Gartenpforte sind verrostet und sie steht offen.
    Ich trete auf den Gartenweg. Die Nachtluft ist kühl und rein, der volle Mond leuchtet über den schwarzen Wipfeln der Kiefern. Ich laufe nach links an unserem Grundstück vorbei auf den Forstweg, der aus dem Dorf hinaus in den Wald führt. Nach ein paar Minuten knipse ich die Taschenlampe an und nehme einen Wildpfad mitten hinein in den Wald. Der bleiche Lichtkegel zeigt mir Äste und Wurzeln, denen ich ausweichen muss, um die richtigen Trittstellen für meine Füße zu finden. Ich bin jetzt hellwach.
    Irgendwann stehe ich vor dem dicken Stamm einer uralten Kiefer. Meiner Kiefer. Die Baumgreisin hat eine halbkugelige Krone und ist mindestens zweihundert Jahre alt (sagt Pa). Mit dem Rücken lehne ich mich gegen den krumm gewachsenen Stamm meiner alten Freundin und knipse die Taschenlampe wieder aus, um Teil der Nacht und des Waldes zu werden. Stille hüllt mich ein, die plötzliche Dunkelheit verschluckt die Umrisse der Bäume, verschluckt alles. Sämtliche lebendige Wesen in meinem Umkreis halten den Atem an.
    Ich schließe die Augen, warte, bis sich Puls und Atmung beruhigt haben und meine Sinne ganz wach sind. Ich warte, bis die Tiere vergessen haben, dass ich da bin.
    Nach und nach wird der Wald lebendig. Ein Käuzchen ruft und verstummt wieder. Wenig später raschelt es am Boden – direkt neben mir. Ich höre ein hartes Bellen, vermutlich mehr als hundert Meter entfernt, doch es klingt irritierend nah. Ein Rehbock.
    Die Stimme der Angst meldet sich mit einem leisen Prickeln im Nacken, aber ich höre nicht hin. Ich öffne die Augen, zwinge mich, die Taschenlampe ausgeschaltet zu lassen. Der Trick ist, die Angst zu bannen.
    Im Wald gibt es für jedes Geräusch eine harmlose Erklärung. Der Wind in den Zweigen, das trockene Rascheln von Laub. Der dunkle Ruf eines Uhus; eine fette Kröte, die schwerfällig über den Boden hopst; Mäuse, die auf winzigen Pfoten umherhuschen und fiepend ihr Revier verteidigen. Ein Dachs, der nach Würmern gräbt, Wildschweine, die sich suhlen, und Fledermäuse, die auf der Suche nach Käfern und Nachtfaltern durch den Wald streifen.
    Die Nacht ist der Ort, an dem sich die Grenze zwischen mir und den Geschöpfen des Waldes auflöst. Mein Herz schlägt in der alten Kiefer, mein Atem streift durch ihre weichen Nadeln, mein Blut pulsiert durch den Körper eines wilden Tieres. Ich werde eins mit ihnen. Werde unsterblich.
    Langsam treten verschwommene Umrisse meiner Umgebung hervor und nach einer Weile werden die Konturen schärfer. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Ich kann sehen, dass der schwarze Arm des mächtigen Riesen nur ein Ast ist und das geduckte Ungeheuer am Boden ein Baumstumpf. Die Hexenkrallen – nichts weiter als abgebrochene, scharfe Äste. Geräusche und Schatten, kein Grund zur Panik.
    Ãœber mir funkeln einzelne Sterne durch die Äste der Kiefer und ein knochenweißer Mond verbreitet sein kaltes Licht. Endlich hebt sich der Druck von meiner Brust und ich kann frei atmen. Es hat wieder einmal funktioniert. Mein Verstand hat die Angst besiegt. Erleichtert trete ich den Heimweg an, ohne die Taschenlampe wieder einzuschalten. Ich bin die Herrin des Waldes und das Mondlicht weist mir den Weg.
    Als ich in den wilden Garten biege, verschwindet ein geduckter Schatten hinter dem Johannisbeerstrauch. Ein Fuchs, ich habe ihn schon einige Mal beobachtet. Drei Minuten später liege ich in meinem Bett. Es ist kurz vor vier, die Erinnerungen an Alina schleichen sich unaufhaltsam aus ihren Kammern. Doch der Schlaf ist schneller.
    * * *
    Laurentia, liebe Laurentia mein,
    wann wollen wir wieder beisammen sein?
    Seit ein paar Tagen ist dieses
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