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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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kann. Zu viel Aufregung.
    Allein in meinem Zimmer rekapituliere ich den Tag und erneut packt mich der Groll über meine Angst, die mich im Wald zur Flucht bewegt hat. Ich darf sie nicht zulassen; darf der Angst keinen Raum geben im meinem Leben. Ich darf nicht, ich darf nicht, ich darf nicht.
    Ich packe meinen Schulkram für den nächsten Tag zusammen, dusche und lese noch ein paar Seiten in »Der Ruf der Wildnis« von Jack London. Das ist heimliche Lektüre. Nur Kai weiß, dass ich solche alten Kamellen lese. In einem kleinen Dorf wie Altenwinkel braucht es nicht viel, um als Freak abgestempelt zu werden. Es genügt, dass ich Vegetarierin bin, damit die Leute mich für extravagant halten.
    Müdigkeit befällt mich, trotzdem kann ich nicht schlafen. Draußen ist es schon lange dunkel, als ich auf den Balkon hinaustappe. Die Luft ist süß und schwer vom Duft der Kirschblüten. Der Blütenschnee kommt immer, ein paar Tage früher oder später im Mai. Unwillkürlich löst der süße Duft in mir die Erinnerung an ein merkwürdiges Erlebnis aus, das ich vor zwei Jahren genau an dieser Stelle hatte.
    Es war ein Abend wie dieser, warm für die Jahreszeit und erfüllt vom Duft der Obstblüten. Ich fühlte mich krank, hatte leichtes Fieber und beschloss, am nächsten Tag zu Hause zu bleiben. Es war schon fast Mitternacht, als ich Kai eine SMS schickte, damit er Bescheid wusste. Er war noch wach und rief mich zurück.
    Â»Es schneit«, sagte er, »geh auf deinen Balkon und schau es dir an.« Kais Stimme wirkte wie Medizin. Ich wurstelte mich aus meinem verschwitzen Bett, zog mir was über und schlurfte mit dem Handy am Ohr auf den Balkon. Ans Geländer gelehnt, sah ich im Licht des Mondes den Kirschblüten zu, wie der Wind sie von den Zweigen holte und wie kalten Schnee im wilden Garten verteilte. Damals war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich Kai irgendwann heiraten werde, weil er das seltene Exemplar eines Jungen war, der Augen für Kirschblütenschnee hatte.
    Um mich ein wenig aufzumuntern, erzählte Kai mir einen Witz und prompt musste ich lachen. Plötzlich sah ich sie, die geisterhaft bleiche Gestalt im Nachthemd, mit dem Engelshaar und den Feenflügeln. Sie stand unter dem Kirschbaum im Dunkeln, eingehüllt in bläuliche Nebelschleier, und sah zu mir herauf. Ich ließ das Handy sinken, während Kai fröhlich weiterplapperte. Mit fiebrigem Blick starrte ich die bleiche Fee an – und sie mich.
    Das ist unmöglich, das kann nicht sein, war alles, was ich zu denken vermochte.
    Â»Alina«, flüsterte ich ungläubig. Aber die Gestalt war schon wieder in der diffusen Dunkelheit verschwunden. Aus dem Handy wetterte Kais Stimme: »Verdammt … Jola, hörst du mir überhaupt zu? Was ist denn mit dir los?«
    Â»Ich glaube, ich hab gerade ein Gespenst gesehen.«
    Â»Du hast Fieber«, sagte Kai. »Leg dich lieber wieder in dein Bett.«
    Außer Kai habe ich niemandem von der unirdischen Erscheinung erzählt. Ich glaube nicht an Geister, damals wie heute nicht, und mir ist durchaus klar, dass mein fiebriges Hirn mir ein Bild vorgegaukelt hat. Ich war einer Sinnestäuschung erlegen. Oder einfachem Wunschdenken. Alinas Geist ist mir seither nie wieder erschienen, aber ich wäre nicht überrascht, wenn sie heute Abend mit ihren Feenflügeln unter dem Kirschbaum stehen würde. Einfach weil ich es mir so sehr wünsche.
    Alina war mit ihren Eltern erst ein Jahr und ein paar Monate vor ihrem Verschwinden von Berlin in das Haus in der Dorfstraße gezogen. Beide Eltern arbeiteten in der Stadt und kamen meist spät nach Hause, trotzdem versuchten sie, aktiv am Dorfleben teilzuhaben. Doch Zugezogene haben einen schweren Stand in Altenwinkel, sie bleiben auf ewig Fremde und werden von den Alteingesessenen auch nach Jahren noch argwöhnisch beäugt.
    Alina scherte sich nicht darum, dass die Dorfkinder sie schnitten und belächelten. Sie trug gerne Kleider in grellen Farben und fiel dadurch auf wie ein Papagei im Hühnerstall. Wir waren Beinahe-Nachbarn, und obwohl Alina und ich grundverschieden waren, mochten wir uns auf Anhieb. Aus der Stadtpflanze und dem Landei wurde schnell ein Team.
    Drachen, Einhörner, Feen und Elfen waren Alinas Welt und ich ließ mich mitreißen von ihrer wilden Fantasie. Wenn wir verborgen hinter der großen Hecke im verwilderten Garten spielten, der
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