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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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warnt die Stimme in meinem Kopf. Du hast keine Angst. Du kennst keine Angst. Lass nicht zu, dass sie Besitz von dir ergreift, sonst endest du wie deine Mutter. Angst ist eine Falle, Angst macht dich zum Opfer. Sie kann dich auffressen wie ein wildes Tier und nichts als bleiche Knochen übriglassen.
    Doch meine Beine werden immer schneller.
    Ohne mich umzudrehen oder auszuruhen, lasse ich zwanzig Minuten später die Schatten des Waldes hinter mir und erreiche den Holzstoß am Forstweg. Mein Fahrrad, das mich zurück ins Dorf bringen wird, lehnt an den sauber aufgestapelten und mit grünen Punkten markierten Stämmen. Das Adrenalin tobt noch durch meinen Körper, ich habe Seitenstechen – aber alles ist wieder unter Kontrolle. Als ich nach dem Lenker greife, nehme ich im linken Augenwinkel eine schattenhafte Bewegung wahr.
    Ein dumpfer Schrei kommt aus meiner Kehle, ich reiße die Arme in die Höhe, stolpere ein paar Schritte rückwärts und setze mich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Hosenboden. Ein zerzauster schwarzer Lockenkopf erscheint hinter dem Holzstoß, ich blicke in Kais Grinsegesicht.
    Â»Hey, was ist denn mit dir los?«, fragt er mit gespielter Besorgnis. »Du siehst aus, als hättest du ein Eichhörnchen verschluckt.«
    Meine Hände tasten über den Waldboden und werden fündig. Ich bewerfe Kai mit Kiefernzapfen und Rinde, schimpfe wie ein Rohrspatz, habe endlich jemanden, an dem ich die Wut über meine Angst auslassen kann.
    Â»Idiot«, stoße ich hervor, »du sollst dich nicht so anschleichen.«
    Kai lacht. Sein warmes, vertrautes Kai-Lachen. Mit eingezogenem Kopf und filmreifer Abwehr-Pantomime kommt er auf mich zu und reicht mir seine Hand. Ich greife danach und mühelos zieht er mich hoch.
    Kai trägt ausgewaschene graue Cargoshorts und sein geliebtes schwarzes Party Hard- T-Shirt, das er sich in Berlin auf unserer Klassenfahrt gekauft hat und das er nur noch auszieht, wenn es vor Dreck starrt oder nach Schweiß riecht. Kai Hartung und ich kennen uns, seit wir krabbeln können. Er war mein bester Freund, bis in den Winterferien aus dieser Freundschaft mehr geworden ist.
    Â»Hey, du blutest.« Kai lässt mich los und schiebt mit Daumen und Zeigefinger meinen Kopf zur Seite.
    Ich fasse an meine rechte Wange. »Dornen«, sage ich. »Was machst du überhaupt hier?« Es kommt nur äußerst selten vor, dass Kai im Wald anzutreffen ist.
    Â»Deine Mutter hat gesagt, dass ich dich hier vielleicht finde.«
    Â»Ja – und?«
    Â»Ich habe Sehnsucht nach dir.« In gespielter Verzweiflung hebt er die Hände. »Aber du gibst dich ja lieber mit Schrecken und Schleichen ab als mit mir.«
    Er meint Blindschleichen und Ödlandschrecken und ich muss mir ein Lächeln verkneifen.
    Â»Ich habe ein Raubwürgergelege entdeckt, sieben grünliche Eier. Sie sehen aus wie gemalt, wunderschön. Dabei hab ich mir in der Schlehenhecke das Gesicht zerkratzt.« Als ich mit der flachen Hand über meine Wange reibe, brennt es wie Feuer.
    Kai betrachtet mich mit einer Mischung aus milder Nachsicht und Spott, aber sein Blick täuscht. Seit wir richtig zusammen sind, geht ihm mein Faible für den Wald und seine Bewohner zunehmend auf die Nerven. Er findet Tiere nur mäßig aufregend – wie die meisten Jugendlichen, die auf dem Dorf aufgewachsen sind. Außerdem will er mich nicht teilen, nicht mal mit einer Blindschleiche oder einem seltenen Vogel.
    In letzter Zeit läuft es für uns beide nicht mehr so gut. Genau genommen seit drei Wochen, seit wir das erste Mal richtig miteinander geschlafen haben. Auf einmal habe ich das Gefühl, in einem Kokon gefangen zu sein, eingewickelt in Erwartungen, die mir die Luft abschnüren. Doch in meinem Inneren summt es. Es brodelt. Es bebt. Es wartet.
    Worauf? Ich weiß es nicht. Ich warte auf alles Mögliche. Dass etwas passiert mit mir. Dass das Warten ein Ende hat. Dass etwas mich von hier forttragen wird.
    Ich schiebe mein Rad auf den Forstweg, der vom Dorf bis ins Sperrgebiet führt. »Hat meine Ma dir denn nicht gesagt, dass Sassy und ich uns heute um fünf mit Marie Scherer treffen? Du weißt doch, unser Zeitzeugengespräch.« Ich lächle ihm entschuldigend zu, dann schwinge ich mich in den Sattel und radele los.
    Ich trete kräftig in die Pedale, aber Kai hat ein nagelneues BMX, während meines ein einfaches, solides Damenrad mit drei
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