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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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den dunklen Kupferton meiner Haare, aber sie locken sich störrisch und sind nur schwer zu bändigen, weshalb ich sie meist zu einem Zopf binde. Wenn ich sie offen trage, was zu Kais Bedauern viel zu selten vorkommt (im Wald ist ein Zopf einfach praktischer), fallen sie mir bis auf die Schultern.
    Ich habe nie versucht, nach außen etwas anderes zu sein, als ich wirklich bin, und Kai hat sich nie beschwert. Aber was sieht er? Und was wünscht er sich?
    Â»Lass uns nach oben gehen, okay?« Ich muss mal und will mich umziehen, denn mein T-Shirt ist völlig verschwitzt. Zwei Stufen auf einmal nehmend, setze ich die Holztreppe in die obere Etage hinauf und Kai folgt mir.
    Die Treppe mündet in einen Flur und alle Räume, die von ihm abgehen, haben Dachschrägen. Linker Hand hat meine Mutter ihr Arbeitszimmer mit Blick auf die Dorfstraße. Die nächsten beiden Türen führen in ein kleines Gästezimmer und in ein Bad mit Dusche und Toilette, das ich so gut wie allein benutze. Außerdem gibt es zwei kleine Abstellkammern. Am Ende des rechtwinkligen Ganges liegt mein Zimmer mit zwei Dachfenstern und einer breiten Glasfront, deren Tür auf meinen überdachten Balkon führt.
    Vor der Glasfront ein großer Schreibtisch, ein Bett unter dem Dachfenster, niedrige Bücherregale entlang der Wände unter der Dachschräge, ein Kleiderschrank neben der Tür – bei zwei schrägen Wänden bleibt nicht viel Platz für Möbel.
    Ich schnappe mir ein frisches T-Shirt aus dem Schrank und verschwinde im Bad, um mich umzuziehen. Arme, Beine und Halsausschnitt sind schon sonnenbraun, der Rest ist noch winterbleich. Ich trage keinen BH, meine Brüste sind zu klein, als dass einer notwendig wäre.
    Im Spiegel begutachte ich, was die Schlehendornen in meinem Gesicht angerichtet haben. Zwei feine rote Risse in meiner rechten Wange, ein paar stecknadelgroße getrocknete Blutstropfen, die ich mit warmem Wasser abwasche. Es brennt wieder, ist jedoch nicht der Rede wert. Ich verletze mich oft, aber jammernd zu Ma zu rennen, hat von jeher alles nur schlimmer gemacht. Also habe ich gelernt, die Klappe zu halten. Der Schmerz geht vorbei, wie alles früher oder später vorbeigeht.
    Als ich in mein Zimmer zurückkomme, lümmelt Kai rücklings auf meinem Bett. Er grinst und klopft mit der flachen Hand auf die bunt gemusterte Tagesdecke.
    Ich ignoriere seine einladende Geste, stattdessen trete ich durch die offene Glastür auf den Balkon hinaus, der in den verwilderten Nachbargarten zeigt. Der Balkon mit Uroma Hermines altem Schaukelstuhl ist mein Lieblingsplatz, hier sitze ich oft und träume, lausche auf das Rascheln der Blätter im Kirschbaum oder den Gesang der Vögel.
    Mein Vater senst im Nachbargarten Brennnesseln, denn er will nicht, dass das Grundstück völlig zuwuchert. Der alte Kirschbaum, dessen stärkster Ast bis an das Balkongeländer heranreicht, verliert seine weißen Blütenblätter. Als feine Schicht liegen sie auf dem schwarzen Teerdach unseres Schuppens, der das Haus mit dem Nebengebäude verbindet, in dem Pa sein Büro hat.
    Kai kommt mir nach. Er stützt seine Hände auf die Brüstung und schaut in den Nachbargarten. Mein Vater entdeckt uns und winkt. Kai winkt zurück. »Jola?«
    Â»Ja?«
    Kai hat schöne dunkelblaue Augen mit dichten Wimpern. Er ist so vertraut. Ich mag seine Lippen, ich mag ihn, nur …
    Er macht eine Kopfbewegung in Richtung Balkontür. »Können wir wieder reingehen?« Seine Stimme klingt heiser, die Frage wie ein unterdrückter Seufzer.
    Â»Warum denn?«
    Â»Ach, komm schon, stell dich nicht so an.«
    Â»Wenn du mich küssen willst, kannst du das auch hier draußen tun«, necke ich ihn und weiß, dass ich grausam bin.
    Â»Oh Mann, Jola. Ich will nicht, dass dein Vater uns dabei zuschaut.«
    Als Kai mich flüchtig auf den Mund küsst, nehme ich den leichten Geruch von Schafwolle wahr, der immer an ihm und in seinen Kleidern haftet. Seine Lippen, seine Hände wollen mehr, aber ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders. Im Wald. Bei der Haarlocke am Nest des Würgers und dem merkwürdigen Gefühl von Anwesenheit, das ich heute Nachmittag nicht zum ersten Mal da draußen gespürt habe.
    Jemand hat mich beobachtet.
    Keine Ahnung, warum ich Kai nicht gleich von der Haarlocke und meinem irrationalen Gefühl erzählt habe. Warum tue ich es jetzt nicht?
    Ich
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