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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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Lied in seinem Kopf. Nur ein altes Kinderlied, aber es zerrt an ihm, rührt an etwas, tief in seinem Inneren. Die Melodie löst eine bittersüße Sehnsucht in seiner Seele aus. Nach dem tröstlichen Duft weicher Mädchenhaut, nach seidenweichem Haar, nach glockenhellem Lachen. Er sucht, sucht im Dunkel seiner Erinnerung, aber eine Laurentia kann er dort nicht finden.
    Laurentia, liebe Laurentia mein,
    wann wollen wir wieder beisammen sein?
    Am Montag!
    Ach, wenn es doch endlich schon Montag wär
    und ich bei meiner Laurentia wär, Laurentia!

3. Kapitel
    A ltenwinkel ist ein winziges verschlafenes Dorf, nicht mehr als eine Ansammlung von rund sechzig Häusern. Der Ort liegt auf einem Hochplateau, das an den Thüringer Wald grenzt. Südlich des Dorfes hat sich ein Flüsschen gut hundert Meter tief in den Muschelkalk gegraben und dadurch steile Abbrüche geschaffen. Ein dichtes Waldgebiet schließt sich im Westen an die letzten Häuser. In nördlicher und östlicher Richtung ist Altenwinkel von hügeligen Trockenwiesen umgeben, die in kleine, von Bauminseln durchsetzte Felder übergehen, auf denen Mais, Raps und Weizen wachsen.
    Im Mittelalter hatte hier oben am Waldrand zuerst nur ein kleines Kloster gestanden, dessen Mönche an den warmen Kalkhängen des Tals Wein anbauten und auf den Trockenwiesen Ziegen und Schafe hielten. Aus dieser Zeit stammt auch die kleine Wehrkirche in der Mitte des Dorfes, die in späteren Jahren immer wieder umgebaut wurde. Vom alten Kloster ist heute nichts mehr zu sehen, aber einige der buckeligen Fachwerkhäuser um Kirche und Dorfplatz herum sind weit über zweihundert Jahre alt.
    Eine Scheißidylle, wie Saskia zu sagen pflegt.
    Mit anderen Worten: Altenwinkel ist das Ende der Welt, ein Kuhkaff. Nein, das stimmt nicht, denn die Kühe im Ort kann man an zwei Händen abzählen. Es ist ein Schafkaff, das kommt der Wahrheit schon näher. Schafe stehen an die fünfhundert auf den Trockenwiesen am Waldrand und alle (abgesehen von ein paar schwarzgesichtigen Heidschnucken im Garten von Hagen Neumann) gehören Kais Vater, dem Schafkönig von Altenwinkel.
    Die Straße in Richtung Eulenbach säumen drei schicke neue Einfamilienhäuser von Stadtflüchtern, ein paar Verrückten, die den Umzug aufs Land riskiert haben und zu denen auch Saskias Eltern gehören. Der Bürgermeister hat das Bauland vor ein paar Jahren zu einem Spottpreis angeboten, weil er hoffte, auf diese Weise das Aussterben des Dorfes zu verhindern. Wer baut, der bleibt, argumentierte er, aber da hieß es noch, dass der Truppenübungsplatz schon bald aufgegeben und es mit der Ballerei ein für alle Mal vorbei sein wird.
    Altenwinkel macht seinem Namen alle Ehre, denn es gibt nur wenige Kinder und die meisten jungen Leute kehren dem Dorf den Rücken, sobald sie die Schule abgeschlossen haben.
    Wir Dorfkinder müssen eine knappe halbe Stunde mit dem Schulbus fahren, um in die Kreisstadt zu gelangen. Auch am heutigen Montagmorgen haben sich wieder zwei Handvoll verschlafene Schüler in Grüppchen an der Bushaltestelle vor dem »Jägerhof« versammelt.
    Kai, Saskia und ich besuchen die zehnte Klasse des Arnstädter Gymnasiums. Saskias Bruder Max ist dieses Jahr in Altenwinkel der einzige Zwölfer. Er ist achtzehn, sieht jedoch aus wie vierzehn mit seiner schmächtigen Statur, den dünnen Beinen und dem pickligen Bücherwurmgesicht. Böse Zungen im Dorf behaupten, dass die beiden nicht vom selben Vater stammen können. Aber die Geschwister mögen sich (meistens jedenfalls) und Max ist voll in Ordnung.
    Bei Clemens Neumann, dem athletischen Riesen mit dem Pferdeschwanz, tippt man auf Anfang zwanzig, er ist jedoch nur ein Jahr älter als wir und geht in die Elf. Clemens steht schweigend mit seiner jüngeren Schwester Tizia zusammen. Die beiden kommen ursprünglich aus Kassel und wohnen erst seit ein paar Monaten in Altenwinkel. Ihre Eltern sind Architekten und haben direkt am Waldrand ein todschickes Haus mit viel Holz, Metall und Glas gebaut.
    Clemens ist der Man in Black – er trägt nichts anderes als Schwarz. Die dreizehnjährige Tizia dagegen sieht immer aus wie aus der Klamottenwerbung, was allerdings nicht über ihr langweiliges Pferdegesicht hinwegtäuschen kann.
    Wirtssohn Kevin Schlotter und sein rotgesichtiger Freund Benni Maul, die Färber-Zwillinge Paulina und Elina und Tanja, die (heimlich in
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