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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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Deutsch, Mathe und Bio bin ich schriftlich dran. In Englisch mündlich.
    Bis zu den Sommerferien sind es noch fast zwei Monate, eine halbe Ewigkeit. Ich bin jetzt schon ferienreif und fühle mich hinter den alten Mauern unserer Schule eingesperrt wie in einem dunklen Keller.
    Der Schultag vergeht quälend langsam. Zuletzt haben wir eine Doppelstunde Mathe, in der wir uns mit der Wahrscheinlichkeitstheorie herumplagen. Als Grundlage dieser mathematischen Betrachtung wird von einem Zufallsvorgang ausgegangen. Alle möglichen Ergebnisse dieses Zufallsvorganges fasst man in der Ergebnismenge zusammen. Meistens interessiert sich jedoch niemand für das genaue Ergebnis, sondern nur dafür, ob ein Ereignis eintritt oder nicht. Ein Ereignis wird als eine Teilmenge von der Ergebnismenge definiert. Umfasst das Ereignis genau ein Element der Ergebnismenge, handelt es sich um ein Elementarereignis.
    Was ein Elementarereignis ist, kann ich gut nachvollziehen. Alinas Verschwinden, zum Beispiel, war ein elementares Ereignis. Für ihre Eltern, ihre Großeltern, für mich, für das ganze Dorf und in erster Linie natürlich für sie selbst. Ihr Verschwinden war ein Zufallsvorgang, denn genauso gut hätte es auch mich treffen können oder ein anderes Mädchen aus Altenwinkel. Aber Martin Sievers hat sich Alina geschnappt und sie getötet.
    Allerdings kapiere ich nicht, wie man das Wesen und die Existenz des Zufalls auf eine Formel an der Tafel reduzieren kann. Wenn ich in die Gesichter meiner Mitschüler schaue, dann weiß ich, dass es ihnen nicht anders ergeht. Und auch Herr Ungelenk, unser Mathelehrer, sieht nicht sonderlich glücklich aus bei seinen Ausführungen. Als es endlich klingelt, habe ich das Gefühl, nicht viel schlauer zu sein als vorher.
    In meinen Augen ist Unterricht schlichtweg vergeudete Zeit. Nothing that’s worth learning can be taught, hat schon Oscar Wilde herausgefunden. In den Klassenräumen werden einem zwar unter großem Zeitdruck eine Menge Informationen eingetrichtert und einige Lehrer bemühen sich redlich, uns die Dinge auch verständlich zu machen, aber ich halte es mit Oscar Wilde: Die Offenbarungen des Lebens begegnen einem nicht im Klassenzimmer.
    Endlich kommt der Schulbus. Montags und donnerstags haben Tilman und Kai nach Schulschluss Fußballtraining, deshalb fährt Kai mit dem späteren Bus zurück. Saskia, die wieder neben mir sitzt, erzählt mit leuchtenden Augen, dass sie ein neues Klamottenpaket von ihrer Cousine aus London bekommen hat.
    Saskia Wagner hat glattes, schulterlanges braunes Haar und ein hübsches rundes Gesicht mit Grübchen in den Wangen. Sie lacht gern und viel, dann werden die Grübchen zu tiefen Löchern. Dank der abgelegten Klamotten ihrer Cousine sieht sie immer schick aus, auch wenn sie für manchen Rock und manche Bluse aus der Londoner Kleidersammlung ein bisschen zu mollig geraten ist. Immerhin, nach ihr drehen sich die Jungs mindestens zweimal um, was bei mir so gut wie nie vorkommt.
    Schon seit ein paar Wochen ist Saskia unsterblich in Clemens, den Architektensohn, verschossen, der unser nächstes Gesprächsthema ist. Arme Sassy, denke ich, warum ausgerechnet der Man in Black? Clemens Neumann ist ein Schönling, mit dem hübschen Kopf zu weit in den Wolken, um ein Mädchen wie Saskia überhaupt zu bemerken. Auf dem Schulhof ist er immer von den angesagtesten Grazien umgeben. Eine feste Freundin scheint er allerdings nicht zu haben.
    Â»Ich hoffe so sehr, dass er mich Himmelfahrt zu seiner Geburtstagsparty einlädt«, vertraut Saskia mir gerade flüsternd an.
    Ich mag sie. Mit ihr kann man über ganz normale Sachen reden wie Klamotten, Musik und Jungs. Das heißt, meistens redet Saskia über Klamotten, Musik und Jungs und ich höre zu. Aber sie kann auch ganz schön hartnäckig sein, wenn sie sich einmal in eine Sache verbissen hat. Das bewundere ich an ihr.
    Hin und wieder beschwert sich Saskia, dass wir nicht mehr Zeit miteinander verbringen, aber der Wald und seine Bewohner interessieren sie nicht die Bohne und außerdem versteht sie, dass ich viel mit Kai zusammen bin.
    Saskia kann es kaum erwarten, wieder wegzukommen aus Altenwinkel. Nach dem Abi will sie nach London gehen, zu ihrer Cousine. Sie fühlt sich gefangen in der Scheißidylle, findet das Landleben langweilig. Typisch Stadtkind, denn auf dem Dorf lernt man schon früh, wie man sich nicht
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