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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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Idee, ein Kapitel einem Zeitzeugenbericht zu widmen, von Saskia.
    Es war jedoch schwieriger als erwartet. »Zu lange her. – Mit Erinnerungen an die Vergangenheit hab ich es nicht so. – Wen interessiert das noch? – Lasst den Toten ihren Frieden. – Könnt ihr euch nicht mit etwas anderem beschäftigen als mit diesen alten Geschichten?«, waren die gängigen Reaktionen.
    Anfangs vermuteten wir, es könne daran liegen, dass Saskia eine Zugezogene ist und die Leute deshalb den Mund nicht aufmachen. Also begleitete ich sie ein paar Mal, aber es änderte nichts.
    Und dann sprach mich letzte Woche völlig überraschend Agnes Scherer an, als ich an ihrem Haus vorbeikam. Ihre Mutter Marie sei bereit, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Saskia war völlig aus dem Häuschen wegen der guten Nachricht, sie hatte schon befürchtet, auf den Zeitzeugenbericht verzichten zu müssen, denn bis zur Projektprüfung bleiben uns noch zwei Wochen.
    In den vergangenen Wochen haben wir vier intensiv recherchiert für unsere Spurensuche und dabei viel Beklemmendes und Menschenunwürdiges über die Geschichte des Tales herausgefunden.
    Ein paar Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten im Tal tausende Zwangsarbeiter ein komplexes Netz aus unterirdischen Stollen und Gewölben im Muschelkalk anlegen, dafür hatten Hitlers Getreue einen Teil des Truppenübungsplatzes in ein Häftlingslager umfunktioniert. Aber auch in der Nähe von Altenwinkel und in einem Dorf auf der anderen Seite der Talstraße gab es große Zeltlager, in denen Häftlinge untergebracht waren, die als Zwangsarbeiter schuften mussten.
    Die Männer, ausgezehrt von Hunger, Kälte und chronischem Schlafmangel, wurden als Schachtarbeiter und im Gleisbau eingesetzt, sie mussten unterirdische Kabel verlegen und andere schwere körperliche Arbeiten verrichten.
    Angeblich sollten die Gänge, Gewölbe und Bunker Hitler als letztes Führerhauptquartier und Nachrichtenzentrale dienen. Doch als die Alliierten sich im Frühjahr 1945 dem Tal näherten, wurden Stollen gesprengt und Bunker geflutet, damit den Befreiern nichts Brauchbares mehr in die Hände fallen konnte.
    Seit damals gibt es wilde Mutmaßungen und Verschwörungstheorien über die verschütteten Gänge und unterirdischen Gewölbe, in denen einige Hartnäckige noch heute Hitlers Atombombe, eine intakte Panzerflotte oder sogar das legendäre Bernsteinzimmer vermuten.
    Saskias Schwerpunkt im Projekt ist der Todesmarsch der Häftlinge nach Buchenwald, den ein Großteil der kranken, halb erfrorenen und verhungerten Männer nicht überlebte. Je mehr sie sich damit beschäftigte, desto drängender wurde für sie die Frage, inwieweit die Bewohner der umliegenden Dörfer von den Gräueltaten wussten und ob sie den Häftlingen geholfen oder einfach weggesehen hatten.
    Saskia verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich wette, die alte Neumeister weiß irgendetwas.«
    Kai schiebt von hinten seine Nase in den Spalt zwischen den Sitzlehnen. »In zwei Wochen ist unsere Präsentation und dann ist das Ding eh gelaufen, Sassy. Der Zeitzeugenzug ist abgefahren, kapier das doch endlich.«
    Â»Ach, halt die Klappe«, brummt Saskia genervt. »Diese Zeitzeugengeschichte war mir persönlich eben sehr wichtig und hätte bei unserer Präsentation mit Sicherheit Punkte gebracht. Lehrer stehen auf so was.«
    Â»Und wennschon. Offensichtlich hat eure einzige seriöse Quelle einen Rückzieher gemacht. Jetzt der alten Neumeister nachzulaufen, ist einfach nur blödsinnig«, hält Kai dagegen.
    Â»Vielleicht interessiert mich ja, was die Altenwinkler unter ihrer Scheißidylle zu verbergen haben«, neckt Saskia Kai. »Die Greise mauern doch nicht ohne Grund.«
    Â»Altenwinkel hat eine Leiche im Keller«, mischt Max sich ein. »Graben wir sie aus!«
    Daraufhin gibt Saskia ein kicherndes Schnauben von sich.
    Â»He«, sage ich, »diese Diskussion bringt uns nicht weiter. Agnes hat abgesagt und die Neumeister ist eine alte Tratsche. Außerdem haben wir die nächsten Tage genug damit zu tun, für die Prüfung zu büffeln.«
    Saskia schaut mich mit ihrem unschlagbaren Das-glaubst-du-doch-selber-nicht-Blick an. Sie kennt mich und weiß, dass ich vom Büffeln nicht viel halte. Die Prüfungen zur besonderen Leistungsfeststellung beginnen in zwei Wochen. In
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