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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch
Autoren: Heinrich Böll
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Mauer ihr Gekläff wie Stafettenläufer weitergebend, neben dem Auto her; sie laufen neben keinem Auto mehr her, haben sich wohl an Autos gewöhnt, und vielleicht ist damit eine Menge über Irland gesagt. So habe ich die Hunde von Dukinella , weil ich ihren Eifer, ihr Temperament und ihre Intelligenz liebte, längst in eine Erzählung hineingeschmuggelt, die mit Irland gar nichts, mit Deutschland sehr viel zu tun hat. Es gibt da weitere beunruhigende Zettel, die immer wieder auftauchen: Die Leute im Settlement oder: Die Messe vor der Valley-Schule ; das Nähkörbchen ist voll. Dreizehn Jahre später, in einem von zwei Jahrhunderten eingeholten und von fünf weiteren Jahrhunderten übersprungenen Irland käme ich nicht mehr auf die Idee, Indianer vom Himmel fallen zu lassen, und Limerick ist nicht mehr das Limerick von 1954. Gut. Es sind auch, zu meinem, aber nicht zum Bedauern der meisten Iren, die Nonnen aus den Zeitungen fast verschwunden; verschwunden ist noch mehr: die Sicherheitsnadeln und die Gerüche, die letzteren wieder zu meinem, nicht zum Bedauern der meisten Iren, denn ich habe nicht etwa, sondern bin ein guter Riecher, und eine geruchlose Welt gefällt mir weniger als eine, die noch Gerüche hatte. Und ein gewisses Etwas hat seinen Weg nach Irland angetreten, jenes ominöse Etwas, das man in der englischsprechenden Welt THE PILL nennt — und dieses Etwas lähmt mich vollends; die Aussicht, daß in Irland weniger Kinder geboren werden könnten, ist für mich niederschmetternd; ich weiß: ich habe gut reden, habe es leicht, mir viele davon zu wünschen; ich bin weder ihr Vater noch ihr Vater Staat und ich brauche nicht Abschied von ihnen zu nehmen, wenn viele von ihnen den Weg in die Emigration antreten. Nirgendwo in der Welt habe ich so viele und so hübsche und so freie Kinder gesehen, und die Aussicht, daß Ihrer Majestät THE PILL gelingen wird, was allen Majestäten Großbritanniens nicht gelang, die Anzahl der irischen Kinder zu verringern, erscheint mir keineswegs erfreulich.
    In diesen dreizehn Jahren ist noch etwas viel Schlimmeres geschehen: ich habe viel über Irland gelesen, ich weiß also einiges, fast viel, und noch lange nicht genug; meine Unschuld ist dahin, und ich bin nicht schuldig, nicht wissend genug. Ich habe auch viel von Iren gelesen, und diese ganz und gar uneinheitliche Einheit Irland ist mir an seiner Literatur am deutlichsten geworden. Beckett, Joyce, Behan , sie sind alle drei so irisch, wie es gar nicht erlaubt sein dürfte, und doch sind sie weit voneinander entfernt, weiter als Australien und Europa. Es ist fast unmöglich, etwas über ein Land zu sagen, in dem ein so erstaunlicher Charakter wie Parnell gedeihen und verraten werden konnte, und auf welche Weise wurde er verraten; oder der Parlamentarier Biggar , der mir wie der eigentliche Erfinder des absurden Theaters vorkommt, er hielt das englische Parlament stunden-, tagelang durch das Ablesen sinnloser Texte auf; ein Land, in dem ein anderer, nicht weniger erstaunlicher Charakter gedieh: Michael Collins, » the laughing boy «, der wohl auch verraten wurde. Schließlich waren es irische Poeten, die anfingen und zu Ende führten, was rührend aussah, aber keineswegs rührend endete; es war verrückt, was sie machten, aber in seiner Verrücktheit realistischer als das, was jener schon ältliche Intellektuelle anfing, der Wladimir Iljitsch Uljanow hieß. Eineinhalb Jahre bevor Lenin die Reste eines Weltreiches übernahm, kratzten die irischen Poeten den ersten Stein aus dem Sockel jenes Weltreichs weg, das als unerschütterlich galt und seitdem schon lange nicht mehr ist. Auf dem Denkmal einer dieser Poeten, Thomas Kettle , steht:
    Starb nicht für Fahne, nicht für Kaiser oder
    König, Starb für den Traum, geträumt in einer
    Hirtenhütte. Und das verborgene Evangelium der Armen.
    Ich habe viel über Irland gelesen, viel erfahren, das wichtigste Faktum scheint mir eines zu sein, das von Beobachtungssatelliten festgestellt worden, »wissenschaftlich« also »objektiv« nachgewiesen ist: daß die Iren näher am Himmel wohnen als die übrigen Europäer, und zwar ziemlich genau vierzig Meter. Das mag unsere so geduldige wie gestrenge Mutter Kirche ein wenig trösten, wenn unaufhaltsam, unaufhaltsam die Diskussion über Ihre weiße Majestät THE PILL bis in die letzte irische Provinzzeitung vordringt, während die Nonnen (besonders die Vier-bis-sieben Geschwister-Nonnen) aus den Zeitungen verschwinden. Unweigerlich näherte
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