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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch
Autoren: Heinrich Böll
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im Abteil unterhielt sich leise mit dem jungen Priester, der für Sekunden von seinem Brevier aufsah, weitermurmelte, aufsah, dann sein Brevier zuklappte und sich ganz dem Gespräch widmete. »San Franzisko ?« fragte er.
    »Ja«, sagte die rothaarige Frau, »mein Mann hat uns mal rübergeschickt; ich fahr’ jetzt zu meinen Schwiegereltern, ich seh’ sie zum ersten Mal. In Ballymote muß ich raus .«
    »Sie haben noch Zeit«, sagte der Priester leise, »noch viel Zeit .«
    »Wirklich ?« fragte die junge Frau leise. Sie war sehr groß, dick und blaß, saß da mit ihrem Kindergesicht wie eine große Puppe, während ihre dreijährige Tochter des Priesters Brevier genommen hatte und täuschend ähnlich dessen Gemurmel nachahmte. Schon hob die junge Frau die Hand, um die Tochter zu strafen, aber der Priester hielt ihren Arm zurück.
    »Lassen Sie doch, bitte«, sagte er leise.
    Es regnete; Wasser lief an den Fensterscheiben herunter, Bauern paddelten draußen über ihre überschwemmten Wiesen, um ihr Heu zusammenzufischen; auf Hecken hing Wäsche, dem Regen preisgegeben, nasse Hunde bellten den Zug an, Schafe flohen, und das kleine Mädchen betete Brevier, flocht in sein Gemurmel manchmal Namen ein, die es aus dem Abendgebet kannte: Jesus, Holy Mary, gab auch den armen Seelen einen Platz.
    Der Zug hielt, ein triefnasser Bahngehilfe reichte Körbe voller Champignons in den Packwagen, lud Zigaretten aus, das Paket mit den Abendzeitungen, half dann einer aufgeregten Frau, den Regenschirm aufzuspannen...
    Der Bahnhofsvorsteher blickte traurig dem langsam davonfahrenden Zug nach: manchmal wird er sich fragen, ob er nicht in Wirklichkeit Friedhofswärter sei: vier Züge am Tag: zwei hin, zwei zurück, und manchmal ein Güterzug, der traurig dahinbummelt, als führe er zur Beerdigung eines anderen Güterzuges. In Irland schützen die Bahnschranken nicht die Autos vor den Zügen, sondern die Züge vor den Autos: sie werden nicht zur Straße hin geöffnet und geschlossen, sondern die Schienenstränge werden zum Bahnkörper hin verriegelt; so wirken die hübsch gestrichenen Bahnhöfe ein wenig wie kleine Erholungsheime oder Sanatorien, die Vorsteher gleichen eher Heilgehilfen als ihren martialischen Kollegen in anderen Ländern, die ständig im Rauch der Lokomotiven stehen, im Donnern der Züge, eilig dahinbrausenden Güterzügen ihre Reverenz erweisen. Blumen wachsen um die kleinen irischen Bahnhöfe herum, zierliche, gepflegte Beete, sorgsam beschnittene Bäume, und der Vorsteher lächelt in den abfahrenden Zug hinein, als wollte er sagen: Nein, nein, du träumst nicht, es ist wirklich wahr, und es ist wirklich 16.49 Uhr, wie meine Uhr da oben anzeigt. Denn der Reisende ist sicher, daß der Zug Verspätung haben muß; der Zug ist pünktlich, aber die Pünktlichkeit wirkt wie Schwindel; 16.49 ist eine zu genaue Zeitangabe, als daß sie auf diesen Bahnhöfen stimmen könnte. Nicht die Uhr ist im Irrtum, sondern die Zeit, die sich auf Minutenzeiger einläßt .
    Schafe flohen, Kühe staunten, nasse Hunde bellten, und die Bauern fuhren mit Kähnen auf ihren Wiesen umher und fischten Gras mit Netzen zusammen.
    Sanfter Singsang floß rhythmisch von den Lippen des kleinen Mädchens, artikulierte sich zu Jesus, Holy Mary, flocht die armen Seelen in regelmäßigen Abständen ein. Die rothaarige Frau wurde immer ängstlicher.
    »Aber nein«, sagte der Priester leise, »noch zwei Stationen bis Ballymote .«
    »In Kalifornien«, sagte die junge Frau, »ist es so warm, und es gibt so viel Sonne. Irland ist mir ganz fremd. Ich bin schon fünfzehn Jahre weg; ich rechne immer in Dollars, kann mich nicht mehr an Pfund, Schilling, Pence gewöhnen, und wissen Sie, Father , Irland ist trauriger geworden .«
    »Das macht der Regen«, sagte der Priester seufzend.
    »Ich bin diese Strecke ja nie gefahren«, sagte die Frau, »aber andere, damals, bevor ich wegging; von Athlone nach Galway — oft bin ich gefahren, aber ich meine, es wohnten jetzt weniger Menschen dort als damals. Es ist so still, daß mir das Herz stehenbleibt. Ich habe Angst .«
    Der Priester schwieg und seufzte.
    »Ich habe Angst«, sagte die Frau leise. »Von Ballymote muß ich noch zwanzig Meilen weit, mit dem Bus, dann zu Fuß, durch Moor — ich habe Angst vor dem Wasser. Regen und Seen, Flüsse und Bäche und wieder Seen — Irland, Father , kommt mir vor, als sei es durchlöchert. Niemals wird die Wäsche auf diesen Hecken trocken werden, das Heu wird davonschwimmen — haben
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