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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch
Autoren: Heinrich Böll
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gerückt auch den Television-Beflissenen in den USA, und wir gingen langsam ans Shannon-Ufer zurück. Schnell fiel jetzt die Sonne, und der alte Mann stopfte rasch seine Pfeife, rauchte sie aber zu hastig leer, und so qualmte sie schon nicht mehr, als die Sonne gerade mit ihrem unteren Rand den Horizont erreicht hatte. Nun aber war auch der Tabaksbeutel des alten Mannes leer, und die Sonne rutschte rapide. Wie tot aber sieht eine Pfeife, die nicht qualmt, im Munde eines Bauern aus, der vor der untergehenden Sonne steht: folkloristische Silhouette, Silberhaar im grünen Licht, rosig überhauchte Stirn. Schnell zerrupfte George ein paar Zigaretten, stopfte sie in den Pfeifenkopf, hellblau stieg der Qualm auf, und gerade jetzt war die Sonne halb hinter dem grauen Horizont untergetaucht: Hostie, die zusehends an Glanz verlor — die Pfeife qualmte, die Kamera schnurrte, und das Silberhaar glänzte: Grüße aus der teuren Heimat für feuchte Irenaugen in den USA, die neue Form der Ansichtskarte. »Wir spielen ihnen«, sagte George, »eine nette Bagpipe-Melodie hinein .«
    Mit der Folklore ist es fast wie mit der Naivität: wenn man weiß, daß man sie hat, hat man sie schon nicht mehr, und der alte Mann stand ein wenig traurig da, als die Sonne untergegangen war; blaugrauer Dämmer sog die grünen Schleier auf. Wir gingen zu ihm, zerrupften mehr Zigaretten und stopften sie in seine Pfeife; kühl war es plötzlich, Feuchtigkeit strömte von überall her, und die Insel, dieses winzige Königreich, seit drei Jahrhunderten von der Familie des Alten bewohnt, die Insel erschien mir wie ein großer grüner Schwamm, der halb im Wasser lag, halb aus ihm herausragte und sich von unten her mit Feuchtigkeit vollsaugte.
    Erloschen war das Feuer im Kamin, dunkel fiel ausgeglühter Torf über die roten Klumpen, und als wir langsam zu dem kleinen Hafen zurückgingen, kam der alte Mann neben mich und sah mich merkwürdig an: sein Blick war mir peinlich, weil er — ja, weil er Ehrfurcht zu enthalten schien, und ich kam mir nicht ehrfurchtgebietend vor; innig, scheu und mit echter Ergriffenheit drückte er mir die Hand, bevor ich ins Boot stieg. »Rommel«, sagte er leise und langsam, und in seiner Stimme lag die Schwere einer Mythe , und »Henry« sagte er — und nun stand alles, was ich vorher nicht verstanden hatte, alles, was über jenen Henry gesagt worden war, plötzlich vor mir wie ein Wasserzeichen, das nur bei besonderer Beleuchtung sichtbar wird. Ich begriff, daß mit Henry ich gemeint war. George sprang neben mir ins Boot: er hatte St. Ciarans Kapelle noch schnell im Dämmer gefilmt. George grinste, als er mein Gesicht sah.
    Ich schöpfte Atem, viel Atem, um den Mythos zu korrigieren: weder Rommel noch Henry noch der Geschichte gegenüber schien es mir gerecht, es so zu belassen — aber das Boot war schon losgemacht, schon hatte Robinson-Mephisto den Motor angeworfen, und ich rief zur Insel hinüber: »Rommel war nicht der Krieg — und Henry war kein Held, bestimmt kein Held, bestimmt nicht«, aber sicher hatte der alte Mann nur drei von den Worten verstanden: Rommel, Henry und Held — und ich rief laut noch einmal nur das eine Wort: »Nein, nein, nein...«
    Auf dieser kleinen Insel im Shannon, die nur selten einmal ein Fremder betritt, wird man vielleicht an dunkel glühenden Kaminen in fünfzig, in hundert Jahren noch von Rommel, vom War und von Henry erzählen. So also dringt das, was wir Geschichte nennen, in entlegene Ecken unserer Welt ein: nicht Stalingrad, nicht Millionen von Ermordeten, Gefallenen, nicht die verstümmelten Gesichter europäischer Städte — der Name des Krieges wird Rommel heißen, Fairness und als Beigabe Henry, der leibhaftig dort war und aus dem blauen Dunkel heraus, vom sich entfernenden Boot aus »Nein, nein, nein!« rief — ein mißverständliches , und deshalb zur Mythenbildung geeignetes Wort...
    Lachend stand George neben mir: auch er hatte einen Mythos in seine Kamera hineingeschnurrt: St. Ciarans Kapelle im Dämmer und den alten Mann, weißhaarig, versonnen; noch sahen wir sein schneeweißes, dichtes Haar fern an der Mauer des kleinen Hafens leuchten: ein Silbertupfer in der Tinte des Dämmers. Die kleine Insel, das Königreich, versank im Shannon mit all seinen Irrtümern und all seinen Wahrheiten, und Robinson-Mephisto, der das Ruder hielt, lächelte friedlich vor sich hin: »Rommel«, sagte er leise, es klang wie eine Beschwörung.

16 Kein Schwan war zu sehen

    Die rothaarige Frau
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