Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
Kahlgeschorenen, noch Rotznäsigen, um den geweint wird, wie Jakob um Josef weinte; vorsichtig hupt der Busfahrer, sehr vorsichtig, aber er, der schon Hunderte, vielleicht Tausende, die er hat aufwachsen sehen, an den Zug gefahren hat, er weiß, daß der Zug nicht wartet und daß ein vollzogener Abschied leichter zu ertragen ist als einer, der noch bevorsteht. Winken, in die Einöde hinein, das kleine weiße Haus im Moor, Tränen mit Rotz gemischt, am Laden vorbei, an der Kneipe, in der Vater abends seinen halben Liter trank; vorbei an der Schule, an der Kirche — ein Kreuzzeichen, auch der Busfahrer macht eins — , der Bus hält; neue Tränen, neuer Abschied; ach, Michael geht auch weg, und Sheila geht; Tränen, Tränen — irische, polnische, armenische Tränen...
    Acht Stunden brauchen Bus und Bahn von hier bis Dublin, und was sie aufsammeln, was in überfüllten Zügen auf den Fluren mit Pappkartons, zerbeulten Koffern oder Leinensäcken herumsteht, Mädchen, die noch den Rosenkranz um ihre Hände geschlungen halten, Jungen, in deren Taschen noch die Murmeln klingen — diese Fracht ist nur ein geringer Teil, nur wenige hundert sind es von mehr als vierzigtausend, die in jedem Jahr dieses Land verlassen: Arbeiter und Ärzte, Krankenschwestern, Hausgehilfinnen und Lehrerinnen: irische Tränen, die sich mit polnischen, italienischen mischen werden, in London, Manhattan, Cleveland, Liverpool oder Sydney.
    Von den achtzig Kindern, die sonntags in der Messe sind, werden in vierzig Jahren nur noch fünfundvierzig hier leben; diese fünfundvierzig aber werden so viele Kinder haben, daß wieder achtzig Kinder in der Kirche knien werden.
    Von den neun Kindern der Mrs. D. werden also sicher vier oder fünf auswandern müssen. Noch wird Pius vom älteren Bruder geschaukelt, während die Mutter Hummer für ihre Gäste in den großen Topf überm Torffeuer wirft; während die Zwiebeln in der Pfanne schmoren und das dampfende Brot auf dem fliesenbelegten Tisch langsam auskühlt; während die See rauscht und Siobhan mit den Augen der Vivien Leigh durchs Fernglas auf die blauen Inseln draußen blickt, Inseln, auf denen bei klarem Wetter noch die kleinen Dörfer zu erkennen sind: Häuser, Scheunen, eine Kirche, deren Turm schon eingestürzt ist. Kein Mensch wohnt mehr dort, keiner. Die Vögel nisten in Wohnstuben, Seehunde faulenzen manchmal am Kai des kleinen Hafens, kreischende Möwen schreien wie verdammte Seelen in den verlassenen Straßen. Es ist ein Vogelparadies, sagen die, die manchmal einen englischen Professor, einen Vogelforscher, hinüberrudern.
    »Jetzt kann ich sie sehen«, sagt Siobhan .
    »Was ?« fragt die Mutter.
    »Die Kirche; sie ist ganz weiß, ganz mit Möwen bedeckt .«
    »Nimm du mal Pius«, sagt der Bruder, »ich muß melken gehen .«
    Siobhan legt das Fernglas aus der Hand, nimmt den Kleinen, wiegt ihn, indem sie summend hin und her geht. Wird sie nach Amerika gehen, Kellnerin werden oder Filmstar, und wird Pius Briefmarken verkaufen, den Klappenschrank bedienen und in zwanzig Jahren mit dem Fernglas auf die verlassene Insel hinausblicken, um festzustellen, daß die Kirche jetzt ganz eingestürzt ist?
    Noch hat die Zukunft, haben Abschied und Tränen für die Familie D. nicht begonnen. Noch hat keiner den Pappkoffer packen und die Geduld des Busfahrers beanspruchen müssen, um den Abschied ein wenig zu verlängern, und noch denkt niemand daran, denn die Gegenwart hat hier mehr Gewicht als die Zukunft; doch dieses Übergewicht, dessen Folge Improvisation an Stelle der Planung ist, dieses Übergewicht wird mit Tränen aufgewogen.

15 Kleiner Beitrag zur abendländischen Mythologie

    Während das Boot langsam in den kleinen Hafen einlief, erkannten wir den alten Mann, der auf der steinernen Bank vor einer Ruine saß. Der Mann hätte vor dreihundert Jahren genauso dort sitzen können; daß er die Pfeife rauchte, änderte nichts an dieser Vorstellung: mühelos ließen sich Tabakspfeife, Feuerzeug und Woolworth-Ballonmütze ins siebzehnte Jahrhundert transponieren: der alte Mann zog sie mit, zog sogar die Filmkamera mit, die George sorgfältig im Bug des Bootes beschützt hatte; wahrscheinlich waren vor Hunderten von Jahren Moritatensänger, predigende Mönche genauso in diesem Hafen gelandet, wie wir landeten; der alte Mann lüpfte die Mütze — weiß war sein Haar, flockig und dicht — , er band unser Boot fest, wir sprangen an Land und wechselten, einander zulächelnd, das » lovely day « — » nice
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher