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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch
Autoren: Heinrich Böll
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sechs, für drei von acht: Sheila oder Sean werden mit ihrem Pappkarton zur Bushaltestelle ziehen, der Bus wird sie zum Zug, der Zug sie zum Schiff bringen: Ströme von Tränen an Bushaltestellen, auf Bahnhöfen, am Kai in Dublin oder Cork in den regnerischen, trostlosen Herbsttagen: durch Moor an verlassenen Häusern vorbei, und niemand von denen, die weinend zurückbleiben, weiß sicher, ob man Sean oder Sheila noch einmal wiedersehen wird: weit ist der Weg von Sydney nach Dublin, weit der von New York hierher zurück, und manche kehren nicht einmal von London wieder heim: heiraten werden sie, Kinder haben, Geld nach Hause schicken; wer weiß.
    Während fast alle europäischen Völker sich fürchten vor einem Mangel an Arbeitskräften, manche ihn schon verspüren, wissen hier zwei von sechs, drei von acht Geschwistern, daß sie werden auswandern müssen, so tief sitzt der Schock der Hungersnot; von Geschlecht zu Geschlecht erweist das Gespenst seine schreckliche Wirkung; manchmal mochte man glauben, dieses Auswandern sei etwas wie eine Angewohnheit, wie eine selbstverständliche Pflicht, die man einfach erfüllt — die ökonomischen Gegebenheiten machen es wirklich notwendig: Als es Freistaat wurde, im Jahre 1923, hatte Irland nicht nur fast ein Jahrhundert industrieller Entwicklung nachzuholen, es hatte auch mit allem, was sich an Entwicklung ergab, noch Schritt zu halten; fast keine Städte gibt es, kaum Industrie, keinen Markt für die Fische. Nein, Sean und Sheila werden auswandern müssen.

18 Abschied

    Der Abschied fiel schwer, gerade deshalb, weil alles darauf hinzudeuten schien, daß er notwendig sei: das Geld war verbraucht, neues versprochen, aber noch nicht angekommen, kalt war es geworden, und in der Pension (der billigsten, die wir in der Abendzeitung hatten finden können) waren die Fußböden so schief, daß wir kopfabwärts in unendliche Tiefen abzusinken schienen; auf einer sanft geneigten Rutschbahn glitten wir durch das Niemandsland zwischen Traum und Erinnerung, fuhren durch Dublin, bedroht von den Abgründen um das Bett, das mitten im Zimmer stand, umbrandet vom Lärm und vom Neonlicht der Dorset Street; wir hielten uns aneinander fest; die Seufzer der Kinder aus den Betten an der Wand klangen wie Hilferufe von einem Ufer, das unerreichbar war.
    Das ganze Inventar des Nationalmuseums, in das wir nach jedem abschlägigen Bescheid des Schalterbeamten zurückgegangen waren, wurde in diesem Niemandsland zwischen Traum und Erinnerung überdeutlich und starr wie die Requisiten eines Panoptikums; wie auf der Geisterbahn im Märchenwald fuhren wir kopfabwärts dahin: St. Brigids Schuh leuchtete silbern und zart aus der Dunkelheit, große schwarze Kreuze trösteten und drohten, Freiheitskämpfer in rührenden grünen Uniformen, in Wickelgamaschen und rötlichen Baretts zeigten uns ihre Schußwunden , ihre Ausweise, lasen uns mit kindlicher Stimme Abschiedsbriefe vor: »Meine liebe Mary, Irlands Freiheit...«, ein Kochtopf aus dem dreizehnten Jahrhundert schwamm an uns vorüber, ein Kanu aus vorgeschichtlicher Zeit; goldener Schmuck lächelte, keltische Fibeln, aus Gold, Kupfer und Silber wie unzählige Kommas auf einer unsichtbaren Wäscheleine aufgereiht; wir fuhren durchs Tor in Trinity Colleges ein, aber unbewohnt war diese große graue Stätte, nur ein blasses Mädchen saß weinend auf der Treppe zur Bibliothek, hielt seinen giftgrünen Hut in der Hand, wartete auf einen Liebsten oder trauerte ihm nach. Lärm und Neonlicht von der Dorset Street herauf rauschten an uns vorüber wie die Zeit, die für Augenblicke Geschichte wurde, Denkmäler wurden an uns vorbeigeschoben, oder wir an ihnen: Männer aus Bronze, ernst, mit Schwertern, Federkielen, Zeichenrollen, Zügeln oder Zirkeln in der Hand; Frauen mit strenger Brust zupften an Leiern, blickten mit süßtraurigen Augen viele Jahrhunderte zurück; unendlich lange Kolonnen dunkelblau gekleideter Mädchen standen Spalier, mit Hurlingschlägern in der Hand, stumm waren sie, ernst, und wir fürchteten, sie würden ihre Schläger wie Keulen erheben; engumschlungen rutschten wir weiter. Alles, was wir besichtigt hatten, besichtigte jetzt uns: Löwen brüllten uns an, turnende Gibbons kreuzten unsere Bahn, wir fuhren den langen Hals der Giraffe hinauf, hinunter, und der Leguan mit seinen toten Augen warf uns seine Häßlichkeit vor; das dunkle Wasser des Liffey gurgelte grün und schmutzig an uns vorüber, fette Möwen kreischten, ein Klumpen Butter —
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