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Irgendwann passiert alles von allein

Irgendwann passiert alles von allein

Titel: Irgendwann passiert alles von allein
Autoren: Philipp Mattheis
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Einzige, der eine richtige Freundin hatte. Eine, die ziemlich gut aussah und die manchmal sogar witzig sein konnte, was ja nicht viele Mädchen waren. Anfang des Jahres hatte sie der Deutschlehrer zu einem Einzelgespräch gebeten, so eine Art Psycho-Vorstellungsrunde, in dem er sie gefragt hatte, welches Tier sie gerne wäre. »Koalabär«, hatte Sina gesagt. Und da sie als Erste dran gewesen war, weil Sinas Nachname mit A begann, hatte sie der ganzen Klasse eingebläut, die Frage des Lehrers ebenfalls mit »Koalabär« zu beantworten. Und weil alle 30   Schüler auf die Frage »Welches Tier wärst du gerne?« mit »Koalabär« antworteten, funktionierte das Psycho-Konzept des Lehrers jetzt überhaupt nicht mehr. Ich zumindest fand das verdammt witzig. Aber Sina hatte was gegen das Kiffen. Auf jeden Fall hatte sie was dagegen, dass Schenz kiffte. Bei uns anderen war es ihr im Prinzip egal, aber Schenz war schließlich ihr Freund, an den hatte sie Ansprüche. Schenz und Sina waren seit drei |17| Monaten zusammen und seit vier Wochen hatten sie Sex miteinander. Wir wussten das sehr genau: Schenz erzählte uns fast täglich alle Details: welche Stellung, wo (im Bett, im Wald oder in der Badewanne) und wie oft. Wir waren uns sicher, dass Schenz dabei ganz schön übertrieb, doch wenn auch nur zehn Prozent seiner Geschichten wahr waren, dann war Schenz auf jeden Fall eine Sex-Machine im Vergleich zu uns.
     
    »Du musst halt öfter üben«, sagte Schenz. »Die Skater in der Stadt fahren jeden Tag zwei, drei Stunden. Wenn du einmal die Woche den Trick übst, brauchst du nicht glauben, dass du ihn kannst.«
    »Ich will hier weg«, sagte Sam, ohne zu stottern. Er setzte sich auf den Beton und holte aus seinem Rucksack einen Tetrapak Eistee heraus. Als er getrunken hatte, reichte er ihn wortlos Schenz und sah in die andere Richtung, dort wo die Gleise in Richtung Stadt verliefen. Ein Friedensangebot. Schenz nahm den Eistee an und grinste in sich hinein.
    »Klar, zieh halt weg. Lass dir vom Jugendamt eine Wohnung in München besorgen. Dann wird bestimmt alles besser werden. Wenn dich jede Woche eine Tante vom Jugendamt besucht, um zu schauen, dass du nicht zu viel kiffst.«
    »B-b-bestimmt b-b-besser«, sagte Sam, ohne zu merken, dass Schenz das ironisch gemeint hatte.
    Ich blickte immer noch auf die Bahnstrecke. Ich hatte geschwiegen. Ich hatte mich nicht eingemischt. Beide hatten irgendwie recht, so wie immer alles zwei Seiten |18| hatte, was wiederum furchtbar nervte, weil alles ständig hinterfragbar, relativ, auf jeden Fall nicht ganz eindeutig war. Die Vorstadt mit ihren weiten Wegen, den Reihenhäusern, den Vorgärten und den ganzen Untoten, die darin lebten, war wirklich unerträglich. Ich meine, in einem Film, nicht jetzt ›Terminator‹ oder so was, sondern in einem normalen Film, passiert etwas, aber in der Vorstadt passierte überhaupt nichts. Und weil das so ist, fühlt sich ein guter Film manchmal mehr nach Leben an als die Realität   … wenn man das so sagen kann. Auf jeden Fall war nichts los. Und trotzdem hatte Schenz auch recht, weil er doch eigentlich nur meinte, alles wäre besser und leichter zu ertragen, wenn wir wie er endlich mal eine Freundin hätten.
     
    Von der Halfpipe zur S-Bahn waren es nur etwa zehn Minuten. Dazwischen lag eine Art Wiese, auf der aber für eine Wiese ziemlich viele Steine herumlagen. Vielleicht war es auch ein Steinfeld, auf dem ein bisschen Gras wuchs. Jedenfalls konnten wir von der Halfpipe aus die S-Bahn kommen sehen. Wir wussten nie genau wann, aber immer irgendwann am Nachmittag spuckte der Zug Leo aus. Ich war zwar kurzsichtig, doch ich erkannte Leo immer schon von Weitem, weil Leo anders ging als andere Menschen. Vor einem Monat war er von der Schule geflogen, weil er einem Mitschüler auf dem Pausenhof Gras verkauft hatte. Und seitdem hatte er sich alle Attitüden eines echten Rebellen zugelegt. Seine Schritte waren breit und kräftig und behielten, auch wenn er schnell ging, etwas Würdevolles. Ich |19| wusste nicht, wie er das machte, aber es sah einfach gut aus, wenn er ging.
    Als er Schenz, Sam und mich sah, lächelte er und beschleunigte seine Schritte. Seine Augen verengten sich zu kleinen respektlosen Schlitzen, mit denen er der Langeweile den Krieg erklärt hatte: den Lehrern, den Erwachsenen, der Vororttristesse. Sam sprang auf.
    »Sam!« Ihre Hände klatschten ineinander.
    Leo nannte jedes Mal denjenigen beim Namen, den er begrüßte. Er sagte »Schenz«
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