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Irgendwann passiert alles von allein

Irgendwann passiert alles von allein

Titel: Irgendwann passiert alles von allein
Autoren: Philipp Mattheis
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|9| Null
    Als ich Sam wiedertraf, sah er aus wie eine Kugel. Es war Anfang April und es nieselte. Er kam mir entgegen, sprach meinen Namen fragend. Till und sein Freund standen neben mir und sie waren von dem stammelnden, dicken Männchen irritiert. Mir war all das unangenehm: ihn ausgerechnet jetzt und hier wiederzutreffen, im Vorbeigehen, im Dunkeln, müde von der Arbeit. Er trat von einem Fuß auf den anderen und stotterte wie damals. Sagte, dass er auf dem Weg nach Hause zu seinen Eltern in Meining sei und dass er jetzt in München in Giesing wohne. Ich sagte, dass ich hier in der Gegend wohne, und beide wussten wir nichts mit diesem Wiedersehen anzufangen. Till und sein Freund sagten nichts.
    Es gibt nichts zu bedauern, es gibt keine Schuld. Jeder von uns war für sich selbst verantwortlich und das bisschen Verantwortung füreinander, das man uns auferlegen könnte, entschuldigt unsere Jugend. So einfach ist das.
    Natürlich hätte ich ihn besuchen können. Weil Schenz ja tot war, und Leo hatte ich seit der Geschichte nie wieder gesehen. Aber als alles endlich wieder einigermaßen |10| normal war, wollte ich die Zeit von damals ruhen lassen. Und ich wusste ja nicht, dass Sam ewig lang drinbleiben würde. Anfangs dachte ich ja, in einer Woche wäre er wieder da. Und später, da wäre es einfach komisch gewesen – ich wusste ja nicht einmal, in welcher Anstalt er war. Und wenn ich es gewusst hätte, was hätte ich denn sagen sollen: »Hey Sam, cool, dass wir uns nach drei Jahren mal wieder sehen. Wie geht’s denn so?« Wäre das nicht noch komischer gewesen?
     
    Ich sehe Sam auf dem Beton der Halfpipe in der Sonne liegen mit seiner beigen Baggy und einer beigen Jacke und dem leicht idiotischen Blick, wie er Leo angrinst. Ich sehe, wie er die einfachsten Skateboardtricks nicht stehen kann, weil er sie nicht geübt hat, und wie er aus Zorn darüber sein Skateboard in die Büsche schleudert. Ich sehe ihn in der Badewanne sitzend wirres Zeug sprechen. Ich sehe uns beide uns vier umarmend, lachend, schreiend, Geldscheine in die Luft werfend. Ich sehe mich mit ihm einige der besten Monate meines Lebens verbringen.
    Und nun stand er vor mir und sah aus wie ein Michelin-Männchen, seinen massigen Körper in eine Daunenjacke gestopft. Wie damals waren seine Haare auf drei Millimeter kurz geschoren. Immer wieder bohrte er mit der Zunge in seinen Hamsterbacken. Vielleicht weil er wieder Zahnweh hatte, so wie früher, als er vier Jahre nicht gegangen war und ihm der Zahnarzt in Meining keinen Termin mehr gab, weil er zuvor fünf davon nicht |11| eingehalten hatte. Stehen geblieben, dachte ich mir, er ist stehen geblieben. Vor Jahren war ein Fenster aufgegangen, Sam hatte alles hereingelassen, das Glück und das Unglück. Als es sich ein paar Monate später schloss, musste Sam mit dem Gerümpel, das er nun in sich trug, zurechtkommen. Er tat es nicht. Das Fenster zur Welt ging nie wieder auf.
    Ich kramte alles hervor, was ich an Small-Talk-Kunst gelernt hatte, klapperte all die Fragen ab, die man einem Menschen so stellt, den man lange nicht gesehen hat. Ich fragte, wo er wohne, was er mache, jetzt und überhaupt. Und er fragte mich, ob ich nicht endlich dieses Abitur hätte. Er brauchte wie früher drei Anläufe, um das Wort herauszupressen, er sagte »A- A-Abitur «. Ich sagte ja, und dass ich gerade Zivi mache. Sam sagte, das mit dem Abi, das wolle er sich auch noch mal überlegen und es nachholen. Ich dachte mir, dass das bestimmt nicht stimme, denn Sam war immer einfach gewesen, nicht dumm oder so, aber eben auch keiner, der eine Kurvendiskussion machen kann oder was von Goethe liest und dann darüber eine Interpretation schreibt, die der Lehrer halbwegs gut findet. So ein Typ war Sam nie gewesen.
    Till und sein Freund sagten immer noch nichts, sondern zogen an ihren Zigaretten und blickten mal zu Sam, mal zu mir, um sich dann wieder in die Augen zu sehen. Tills Freund war gerade aus Berlin gekommen und Till hatte ihn vom Bahnhof abgeholt. Ich hatte die beiden zufällig getroffen, und anstatt nur ein paar Worte zu wechseln, hatte ich Till um eine Zigarette angeschnorrt |12| und plötzlich war Sam gekommen – nach fünf Jahren war er einfach so aufgetaucht. Nun standen wir alle vier hier, verbunden für diese eine Zigarette, die fast zu Ende geraucht war.
    Es war Sam, der die Spannung löste. »Ich m-muss jetzt los. Mach’s gut.«
    Wir gaben uns die Hand, kein cooler Handschlag. Damals waren unsere Handflächen immer
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