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Irgendwann passiert alles von allein

Irgendwann passiert alles von allein

Titel: Irgendwann passiert alles von allein
Autoren: Philipp Mattheis
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aufgeschwemmten und grobporigen Gesicht. Er trug ein rot-weiß kariertes Hemd und hätte lächerlich ausgesehen, wäre da nicht ein boshaftstrenger Zug um seine Mundwinkel gewesen. Ich rauchte.
    Mir fiel immer nur Tabakrauch ein, um diesen Geruch zu bekämpfen; scharfer, beißender und alles überdeckender Zigarettenrauch. Ich konnte mich daran festhalten und war in Sicherheit vor dem selbstgefälligen Muff der Erwachsenen. Der Rauch roch überall gleich und nichts hielt ihm stand. So saß ich auf einer Bank, bezogen mit rotbraunem Kunstleder, betrachtete die vorbeifliegende Landschaft, ließ mich von ihr hypnotisieren und rauchte. Das gleichmäßige Rattern der Räder auf den Schienen versetzte meine Gedanken in ebenso gleichmäßige Schwingungen.
    |213| Heute war Schenz’ Begräbnis. Ich wollte nicht hingehen. Vielleicht war das feige, aber mir leuchtete der Sinn einer solchen Veranstaltung nicht ein. Ich wollte Sina nicht sehen, ihr nicht beim Weinen zuschauen und sie wieder sagen hören: »Ich habe nur ihn geliebt.« Ich würde die schwülstige Rede des Pfarrers nicht ertragen können. Ich hatte keine Lust, Schenz’ Eltern und seine kleine Schwester zu sehen. Bestimmt würden sie kein Wort zu mir sagen, aber mir dafür Blicke zuwerfen, die bedeuteten: Wir wissen, dass du irgendetwas mit seinem Tod zu tun hast. Irgendetwas bestimmt. So wie jeder Mensch irgendetwas mit allem zu tun hat. Ich wollte nur meine Ruhe.
    Ich war nicht schuld an seinem Tod. Ich hätte ihn davon abgehalten, in das Auto zu steigen, wenn ich dabei gewesen wäre. Mich traf keine Schuld. Ich hatte nur mit seiner Freundin geschlafen, doch daran stirbt man nicht. Und Sam? Sam, dachte ich, würde bald wieder rauskommen und dann würde alles so werden wie früher, fast, meine ich, weil Schenz ja anscheinend wirklich tot war. Aber Sam und Leo würden bald wieder da sein auf der Skate-Rampe hinter der S-Bahn -Linie.
     
    Ich zündete mir die nächste an. Hinter jedem schönen Bild, das dort draußen an mir vorbeiflog, lauerte die Enge. Das Banale steckte hinter jeder Straße und jeder Ecke, hinter jedem Gesicht und in jedem Körper. Wir wollten nur keine Langeweile und wir wollten, dass die Dinge von alleine passieren. Ich meine, wir waren ja nicht volljährig oder so.
     
    |214| Ich war in den Wald gegangen und hatte in der Waldluft nach der Plastiktüte gegraben. Wie ein Schatzsucher war ich sieben Schritte vom Hochstand nach rechts gegangen und hatte an der großen Wurzel zu buddeln begonnen. Als ich die Tüte gefunden hatte, nahm ich die Briefe und verbrannte sie in einer metallenen Pausenbrotbox, die ich extra dafür mitgebracht hatte. Das Geld nahm ich und steckte es ein letztes Mal in meine Hosentasche. Meine Eltern waren noch immer im Sommerurlaub, sie würden erst in einer Woche zurückkehren. Ich wollte zum Hauptbahnhof und mit einem Zug irgendwo hinfahren: nach Rom, nach Paris, Amsterdam oder ans Meer. Also eigentlich irgendwohin, Hauptsache weg. Aber das ging nicht. Als ich am Schalter am Münchner Hauptbahnhof stand, wusste ich nicht, ob ich in einer anderen Stadt überhaupt ein Hotelzimmer bekäme ohne ein Schreiben meiner Eltern. Mir fiel auch ein, dass ich nicht Italienisch sprach, und Französisch nur ein paar Brocken. Ich war mir auch nicht mehr sicher, ob ich es denn rechtzeitig zurück schaffen würde, bevor meine Eltern aus dem Urlaub wiederkämen. Ich dachte daran, dass ich mindestens noch einen Tag benötigen würde, um das Haus aufzuräumen. Ich dachte auch daran, dass bald die Schule wieder begann und ich den Wunsch verspürte, dorthin zu gehen. Ich meine, ich hatte wirklich Lust, wieder in die Schule zu gehen. Und so trat ich ich an den Schalter und nannte den einzigen Ort, der mir einfiel, weil wir letztes Jahr im Herbst auf Klassenfahrt dort gewesen waren und es eigentlich ganz cool gewesen war. Ich sagte: »Passau.«
    |215| »Einfach oder mit Rückfahrt?«
    Ich zögerte einen Moment, ich hätte gerne länger überlegt, doch hinter mir stand eine Schlange von Menschen. Also sagte ich: »Mit Rückfahrt bitte.«
     
    Es war früher Abend, als der Zug im Bahnhof von Passau zu stehen kam. Eine Unruhe entstand, Koffer wurden herabgezogen, ein Mann ächzte, ältere Damen stöhnten auf, Menschen humpelten und drängten durch die engen Gänge hinaus. Ich hatte kein Gepäck. Ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen, zog mein Cap tief ins Gesicht und schlenderte durch den Bahnhof. An einer Espresso-Bar trank ich einen Kakao
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