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Irgendwann passiert alles von allein

Irgendwann passiert alles von allein

Titel: Irgendwann passiert alles von allein
Autoren: Philipp Mattheis
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von niemandem gesehen zu werden. Ich sah nur nach vorne und trat, so schnell ich konnte, in die Pedale.
    Nie wieder, schwor ich mir, nie wieder würde ich auch nur einen Fuß in diese Straße setzen! Nie wieder wollte ich das Haus von Hilde Stetlow und ihrer Schwester auch nur sehen. Es war vorbei. Es war für immer vorbei. Der Himmel wurde schwarz, ich fuhr nach Hause, legte mich ins Bett und drehte aus meinem letzten Rest Gras einen Joint. Dann begann es zu regnen.
     
    Es war gegen Mitternacht, noch immer fielen dicke Tropfen vom Himmel und der Fernseher lief seit Stunden, um mich abzulenken. Das Telefon klingelte. Es |200| war Sina und schon nach den ersten paar Sekunden war mir klar, dass es nicht um uns ging, auch nicht um die zwei Typen auf Sams Party und auch nicht um das Nightflight oder das Terminal.
    Sie sprach nicht wie sonst in ihrem gekünstelten Singsang »Ja, hallooo, hier ist die Sinaaa«. Sie sagte lediglich knapp »Hallo« und nach einer Pause: »Alex hatte einen Unfall.« Es war das erste Mal, dass sie Schenz beim Vornamen nannte.
    Ich fragte, was passiert sei, und dann erzählte sie, dass Schenz’ Eltern ihre Eltern angerufen hätten, denn Schenz sei auf dem Weg zu ihr gewesen. Er hätte wohl ein Auto geknackt, sagte sie, und mir fiel ein, dass er hin und wieder davon gesprochen hatte, wie leicht es sei. Er hatte es bei einem Kumpel aus der Realschule einmal gesehen, mit einem dicken Kleiderhakendraht bekäme man die Tür auf und der Rest sei auch ein Kinderspiel. Irgendwo in Riem in der Nähe des Terminals, sagte Sina. Die Polizei sei sich noch nicht sicher, wie genau es dazu gekommen war. Schenz hatte Alkohol im Blut, außerdem fand die Polizei noch Koks im Wagen.
    »Ist er   …?« – tot, wollte ich fragen. Doch anstatt einer Antwort kam ein Schluchzen durch den Telefonhörer. Sie weinte, schnappte nach Luft, weinte weiter, schluchzte und hielt nur einmal kurz inne, um sich zu schnäuzen. Nach einigen Minuten sagte sie, noch immer mit Tränen in der Stimme:
    »Er wollte zu mir. Er hatte seiner Mutter gesagt, er würde heute Nacht bei mir bleiben. Aber mir hat er nichts davon gesagt. Wir haben seit Tagen nicht mehr |201| gesprochen. Wir haben uns das letzte Mal auf Sams Feier gesehen.«
    Ich schluckte ein paarmal, doch der Kloß in meinem Hals blieb. Schenz war also tot. Die Bedeutung des Satzes sackte ab wie ein ins Wasser geworfener Stein, nur kam er nicht auf dem Grund an. Er war mein erster Toter, meine Großeltern waren entweder vor meiner Geburt gestorben oder lebten noch. Ich nahm keine Veränderung wahr, alles war genauso, wie es vor diesem Satz gewesen war: Ich lag in meinem Bett mit dem Telefonhörer in der Hand, der Fernseher lief lautlos, Regentropfen schlugen an das Fenster. Alles war genau so, wie es gewesen war, bevor das Telefon geklingelt hatte. Nur Sina schluchzte. Ich wollte sie nach dem Abend im Nightflight und den beiden Typen fragen, aber sie sagte:
    »Ich habe doch nur ihn geliebt.«
    Sie wiederholte diesen Satz vier oder fünf Mal und bei jedem Mal klang er leiser, bis ihre Stimme schließlich ganz verstummte. Wir schwiegen uns noch eine Weile durch den Hörer an, dann sagte sie:
    »Ich muss jetzt schlafen.«
    »Gute Nacht«, sagte ich und legte auf.
    Ich stellte mir vor, er sei weggezogen in ein anderes Land. Weit weg, vielleicht nach Kanada oder Japan. So etwas passierte ständig. Was machte das für einen Unterschied? Ich horchte genau in mich hinein, suchte mein Inneres nach einem Gefühl von Traurigkeit ab und wartete auf Tränen. Doch da war nichts. Sie würden noch kommen, bestimmt.

|202| Neunzehn
    Fabians Mutter war eine kleine, rundliche Frau mit kurzen stoppeligen Haaren und einem freundlichen, lustigen Gesicht. Auf der Nase trug sie eine dünne Brille mit ebenfalls runden Gläsern, was ihre gesamte hobbithafte Erscheinung noch unterstrich. Schelmisch lächelte sie mich an, als sie die Haustür öffnete.
    »Du bist Johannes, nicht wahr?«
    »Ja«, antwortete ich schüchtern und schob ein »Grüß Gott« hinterher.
    »Johannes«, sagte sie, »wenn ihr das nächste Mal eine Party feiert, drückt doch bitte die Kippen nicht in den Topfpflanzen aus. Das wäre lieb.«
    Ich wollte sagen, ich wisse von nichts, ich sei das nicht gewesen, ich habe mit der Sache nichts zu tun. Doch sie lächelte und sagte: »Fabian ist oben in seinem Zimmer.« Ich nickte.
    Die Ledercouch im Wohnzimmer war aufgeräumt, die Decke, in die sich Fabian die ganze Zeit über eingeigelt
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