Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irgendwann passiert alles von allein

Irgendwann passiert alles von allein

Titel: Irgendwann passiert alles von allein
Autoren: Philipp Mattheis
Vom Netzwerk:
ein Mordkommissar am Tatort, der keine Spur verwischen will. Hier war alles voller Federn, weißer, grauer, brauner Bettfedern, die Schranktür war fast vollständig zerhackt und zersplittert, der Inhalt, Bettwäsche und Kittel, auf den Boden geworfen, zerrissen.
    Am schlimmsten sah es im Wohnzimmer aus: Die Fenster des Geschirrschrankes waren zersplittert, wahrscheinlich mit der Axt eingeschlagen, denn sie lag am Boden. Der Boden war über und über mit kleinen Scherben bedeckt: Glas, Porzellan, Kristall. Eine zerbrochene Geige lag in der Ecke, Sofa und Stühle standen teils auf dem Kopf, teils waren die Polster aufgeschnitten worden. Jemand musste hier gewesen sein, weil er nach etwas gesucht hatte. Als er es nicht gefunden hatte, war er zornig geworden und hatte wild und wahllos alles herausgerissen und zerstört. Das ganze Stockwerk war |197| eine Müllhalde. Es war   … Etwas knackste. Es knackste, so wie die Gelenke bei manchen Menschen knacksen, wenn sie Treppen hinaufsteigen. Ich hielt inne. Dann scharrte etwas, knackste, scharrte, knackste, scharrte. Ich atmete aus, leise und langsam. Das Geräusch kam nicht von hier, nicht aus der Wohnung im ersten Stock. Leise, leise, ich lenkte meine ganze Aufmerksamkeit auf das Geräusch. Es verstummte für einen Moment, dann wieder das Scharren kleiner Steine auf Beton, das Knacksen alter Knöchel.
    Jemand stieg die Treppe herauf.
    Es war jemand im Haus.
    Sie klang wie ein Bogen, der ganz langsam über eine verstimmte Geige fährt. Sie quietschte, sie fragte:
    »Hallo?«
    Sam hatte recht, er war nicht verrückt, er hatte gewusst, was wir nicht gesehen hatten.
    »Ist hier jemand?«
    Es war die zittrige Stimme einer alten Frau, einer kranken, gebrechlichen, von ihrem eigenen Leiden boshaft gewordenen Frau. Sam hatte sie gesehen, damals, als er alleine in den Keller gestiegen war, während wir oben auf ihn gewartet hatten. Schwitzend stand ich neben der zerbrochenen Geige. Langsam spannte sich eine alte, rostige Feder, Stahl, der sich an Stahl rieb, ganz bedächtig, zärtlich beinahe. Ein Ruck. Und noch einer.
    »Hallo?«, krächzte die Stimme und klang selbst wie rostiges Eisen.
    Sie stand an der Tür. Sie drückte die Klinke nach |198| unten. Die folgenden Sekunden dehnten sich und nur mein Atem, den ich nicht mehr länger anhalten konnte, machte einen Unterschied zur Ewigkeit. Da war es wieder: das Scharren, das Knacksen der Knochen, langsam aber stetig wiederkehrend, insgesamt vierundzwanzig Mal.
    Hilde Stetlow war die Treppe hinabgestiegen.
     
    Draußen bellte ein Hund. Es müssen zehn, vielleicht auch fünfzehn Minuten gewesen sein, bis ich mir wieder eine Bewegung erlaubte. Es war der Griff in meine Hosentasche. Das Wunderbarste, was ich in diesem Moment besaß, war eine halb volle Zigarettenschachtel. Nichts konnte in diesem Moment so gut sein wie eine Zigarette.
    Gierig saugte ich daran, Zug für Zug. Ich suchte nach einer nicht brennbaren Stelle, wo ich die Kippe ausdrücken konnte, was angesichts der Unmengen von Papier nicht leicht war. Ich erstickte die Glut auf dem Holz der Geige und warf den Stummel in deren Bauch. Ich horchte genau, vergewisserte mich, doch da war kein Geräusch, weder ein Knacksen noch ein Scharren noch ein Hundebellen. Verschwinden musste ich, raus und nie wieder zurückkehren. Wahrscheinlich hatte sie schon die Polizei gerufen. Ich musste das Haus verlassen. Vielleicht hatte ich eine Chance, wenn ich mich, noch bevor die Polizisten in der Blumenstraße ankämen, aus dem Staub machte. So vorsichtig ich konnte, schlich ich zur Wohnungstür. Behutsam wie ein Bergsteiger, sorgsam auf jeden meiner Schritte achtend, stieg |199| ich über Papier, Kleidung und Geschirr hinweg. Ich presste mein Ohr an das Sperrholz, horchte abermals und drehte in Zeitlupe den Schlüssel herum. Das Metall knackste ein wenig, als der Riegel einrastete. Vorsichtig drückte ich die Klinke nach unten. Die Feder im Inneren spannte sich und schließlich ging die Tür auf. Ich streckte meinen Kopf durch den Spalt und sah das Treppenhaus hinab. Die Luft war rein, so rein sie in diesem Haus sein konnte. Auf Zehenspitzen schlich ich die Stufen in das Erdgeschoss hinunter, ging zur Terrassentür – sie war verschlossen   –, tapste gebeugt durch den Garten, und als ich endlich wieder im Freien war, sprang ich auf mein Fahrrad und radelte, so schnell ich nur konnte, aus der Blumenstraße hinaus. Kein einziges Mal drehte ich mich um, auch nicht, um mich zu vergewissern,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher