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Irgendwann passiert alles von allein

Irgendwann passiert alles von allein

Titel: Irgendwann passiert alles von allein
Autoren: Philipp Mattheis
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übereinandergeglitten, bis zum zweiten Fingerglied, wo sie sich verhakten und dann mit einem Schnalzen auseinandergerissen wurden. Und vor diesem Gruß hatten wir uns immer nur die Flächen der Finger gereicht, nie aber die Handfläche. Alle hatten das so gemacht, damals in Meining, bevor es losging. Als es losgegangen war, klatschten die Handflächen ineinander und die Finger schnalzten, als sie sich wieder trennten. Aber heute gaben wir uns nur die Hand, wie sich Millionen Menschen auf dieser Welt die Hand geben: Sie umschließen sich gegenseitig, drücken kurz und verlieren sich dann wieder. Die Straßenbahn kam und Sam stieg ein.
    Ich fragte ihn nicht nach seiner Telefonnummer. Vielleicht – und dafür schäme ich mich jetzt – weil es mir peinlich war, weil ich nicht wollte, dass Till und sein Kumpel dachten: Was kennt der denn für Leute? Andererseits: Es wäre auch nur ein lächerlicher Pro-forma-Akt gewesen, weil ja doch keiner von uns beiden den anderen angerufen hätte.
    Wir hatten uns nichts mehr zu sagen, wir lebten in verschiedenen Welten. Ich war Zivi für geistig Behinderte, |13| und Sam, Sam brauchte vielleicht selbst einen Zivi.
    Es gibt nichts, was uns verbindet – außer dieser Geschichte.
     
    Oder?

|14| Eins
    Nachdem Sam zwei Zigaretten hintereinander geraucht hatte, stieg er auf sein Skateboard. Mit dem linken Fuß schob er dreimal kräftig an und rollte auf einen kniehohen Betonblock zu, auf dessen Oberseite eine Metallstange eingefasst war. Doch anstatt, wie eigentlich geplant, kurz vor dem Block sein Brett mit einer schnellen Bewegung in der Luft quer zu stellen und auf der Stange entlangzurutschen, passierte etwas anderes: Sam drehte sein Brett zu früh. Noch bevor er die Stange erreicht hatte, stolperte er, fiel hin und landete mit seinem Knie direkt auf dem Metall. Er stand auf, fluchte, nahm sein Skateboard und schleuderte es gegen die Halfpipe, an der es scheppernd abprallte und liegen blieb.
    Die Flüche, die er aus seinem Mund spuckte, wirkten lächerlich. Sam stotterte nämlich. Und zwar immer dann, wenn er aufgeregt war. Nicht so stark, dass er deswegen die ganze Zeit aufgezogen worden wäre. Es hatte sich seit der Grundschule auch schon ziemlich gebessert. Im ersten Jahr, als er neu in die Klasse gekommen war, verstand ihn kaum einer, weswegen Sam wiederum ein Jahr lang überhaupt nicht gesprochen |15| hatte. Er hatte wirklich das ganze dritte Schuljahr so gut wie kein Wort gesagt. Irgendwann hatte er dann so eine Therapie gemacht, wo Leuten das Stottern abtrainiert wird, und dann wurde es langsam besser. Jetzt stockte er nur noch an den Wortanfängen. Es war nicht so schlimm, dass ihn alle verarschten oder so. Aber ab und zu schmunzelten Leute über ihn. Sam merkte das natürlich irgendwie und manchmal kam dann alles zusammen: dass er als Einziger auf die Realschule ging anstatt auf das Gymnasium, dass er keine Freundin hatte wie Schenz und dass er nicht so viel Geld von seinen Eltern bekam, um sich Dinge wie einen Stüssy-Pullover leisten zu können. Er war ja nicht blöd oder so. Und dann passierte es, dass Sam einfach gar nichts mehr sagte. So wie in der Grundschule: Er blieb einfach stumm.
    Jetzt aber schrie Sam: »Sch-sch-scheiß S-Skaten !«
    Schenz, der Sams Vorhaben von Anfang an beobachtet hatte, lachte. Wenn Schenz lachte, klang das wie Blech, das auf Asphalt klappert. Während er vor sich hin schepperte, strich er sich immer wieder seine schwarzen Strähnen hinter die Ohren. Sams Gesicht lief puterrot an und einen Moment dachte ich, er würde jetzt wieder einen Tag lang nichts mehr sagen. Doch Sam zündete sich die dritte Zigarette an und sagte dann zu Schenz: »Halt’s Maul. D-d-du kannst es ja gar nicht!«
    »Will ich ja auch gar nicht.« Aus seinem Lachen war ein schadenfrohes Grinsen geworden. »Habe ich nie vorgehabt.«
    Sam sah jetzt zu mir, doch als ich es bemerkte, wandte |16| ich meinen Blick in Richtung Bahnhof. Ich wollte mich nicht einmischen, sie stritten zu oft, fand ich.
    »Du liegst auch den ganzen Tag im Bett rum und vögelst Sina, und wenn du alleine bist, wichst du. T-t-tolles Leben, Sch-Schenz.«
    Schenz wusste nicht mehr, was er darauf antworten sollte. An dem, was Sam ihm als vermeintliche Beleidigung entgegenraunzte, konnte er gar nichts Schlechtes finden. Außerdem war es im Großen und Ganzen die Wahrheit. Schenz verbrachte einen Großteil seiner Freizeit im Bett – zu zweit oder alleine. Wir alle waren neidisch auf ihn. Er war der
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