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Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Titel: Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
Autoren: Peter Heather
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Nordschottland und auf den nördlichen und westlichen britischen Inseln. Die logistischen Probleme des Transports per Schiff legten den Skandinaviern Beschränkungen auf, mit denen die Korčak- und Wielbark-Gruppen nicht konfrontiert waren. Daher mussten die Migrantengruppen von Jarls und Landbesitzern organisiert werden, die über genügend Mittel zur Finanzierung des Transports verfügten. Im Unterschied zu Island und Grönland waren Nordschottland und die Britischen Inseln bereits besiedelt, so dass dort die Expansion selbst kleiner skandinavischer Migrationseinheiten von Gewalt begleitet war. Entgegen früherer Annahmen gab es zwar keine ethnischen Säuberungen, aber die alteingesessene Bevölkerung wurde sozial herabgestuft und musste sich der Kultur der Invasoren anpassen. Sofern kleine Migrationseinheiten auf eine autochthone Bevölkerung ohne stabile politische Strukturen trafen, konnten sie sich erfolgreich etablieren. Das »wave of advance«-Modell, demzufolge kleinteilige Migrationen ziellos und friedlich verliefen, muss demnach um Kleingruppen-Migrationen ergänzt werden, die durchaus geplant und/oder aggressiv verliefen. Das gilt somit nicht nur für die Ausbreitung der Wielbark- und der Korčak-Kultur sowie für bestimmte Wikinger-Expansionen, sondern vielleicht auch für die Frühphasen der ostgermanischen Expansion Richtung Schwarzes Meer im 3. Jahrhundert, für den Vorstoß der Elbgermanen in die Agri Decumates sowie für die Migration slawischer Gruppen aus dem Norden und Osten nach Russland zwischen dem 7. und dem 9. Jahrhundert.
    Zudem kann zwischen einer »wave of advance« und größeren Migrationsbewegungen keine klare Trennlinie gezogen werden. Dass eine Expansion mit kleinen Migrationseinheiten begann, heißt nicht, dass sie im weiteren Verlauf klein bleiben musste. Die Wikinger sind hierfür das beste Beispiel. Ihre ursprünglichen Beutezüge und Besiedlungen im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert wurden von kleinen Gruppen durchgeführt. In den Quellen ist erstmals von Gewalttätigkeiten im Zusammenhang mit drei Schiffsmannschaften die Rede, deren Zahl wohl um die hundert Mann betrug, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass für die Siedlungen in Schottland und auf den Britischen Inseln wesentlich größere Gruppen benötigt wurden. Doch mit wachsender Gegenwehr und steigenden Profiten wuchs der Wunsch, noch mehr fruchtbare Gebiete zu besiedeln. Diesem Bestreben standen jedoch die angelsächsischen Königreiche im Weg. So traten immer mehr skandinavische Anführer auf den Plan, und unter den Migranten bildeten sich größere Verbände. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt in der Zeit der Großen Heere ab 865, als Bündnisse mit dem Ziel entstanden, sich Siedlungsgebiete zuerst im angelsächsischen England und dann im nördlichen Frankenreich zu erkämpfen. Während die ersten Raubzüge von Gruppen unternommen wurden, die nicht mehr als hundert Mann zählten, bestanden die Großen Heere jeweils aus fünf- bis zehntausend Kriegern. Die mit Schiffen durchgeführten Überfälle stellten die Wikinger vor logistische Probleme, die andere Migranten nicht kannten. Aber ihre Entwicklung von Plündererhorden zu Großen Heeren zeigt anschaulich, wie – dank wachsendem militärischen und finanziellen Erfolg – eine ursprünglich kleinteilige Expansion zu einem regelrechten Migrationsstrom werden konnte. Diese Dynamik lässt sich jedoch nicht nur bei den Wikingern beobachten. Auch die Züge der Goten im 2. und 3. Jahrhundert und die der Langobarden im 4. und 5. Jahrhundert begannen bescheiden, gewannen aber an Größe, bis Gruppen entstanden, die sich Schlachten mit römischen Armeen und regionalen Konkurrenten lieferten. Die angelsächsische Expansion in das frühere römische Britannien verlief teilweise ebenfalls nach diesem Muster, womöglich auch die der Alamannen im 3. Jahrhundert.
    Ohne auf dieses heftig umstrittene Thema näher einzugehen, lässt sich feststellen, dass die Zeugnisse aus dem 1. Jahrtausend eine gründliche Revision der heute gängigen Migrationsmodelle nahelegen. Die Quellen aus dem 1. Jahrtausend berichten nicht nur von Kleingruppen-Migrationen, Eliteaustausch und Migrationsströmen zunehmender Stärke, sondern regelmäßig auch von großen gemischten Bevölkerungsgruppen – 10 000 Krieger und mehr in Begleitung ihrer Frauen und Kinder –, die sich auf Wanderung begaben. Solche Berichte erregen nicht nur deshalb Argwohn, weil sie die alte Invasionshypothese
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