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Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Titel: Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
Autoren: Peter Heather
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Bedeutung stark in Zweifel. Wo immer möglich, wird sogar der Begriff »Migration« vermieden, da er mit dem tatsächlich allzu schlichten Erklärungsmodell der »Invasionshypothese« assoziiert wird, das bis in die frühen 1960er Jahre vorherrschte. Diesem Modell zufolge bedeutet Migration das Auftauchen einer großen gemischten Gruppe – einer »kompletten« Bevölkerung aus Männern und Frauen, Alten und Jungen –, die die alteingesessene Bevölkerung vertreibt und deren Territorium übernimmt, wodurch sich dort praktisch über Nacht das Profil der materiellen Kultur ändert. Dieses Modell wurde so inflationär verwendet und lähmte mit seinem Tunnelblick auf die Migration die sich ansonsten gut entwickelnde Archäologie so sehr, dass sie jeden kreativen Gedanken erstickte. Ohnehin ließ sich mit der Invasionshypothese nie etwas erklären, da sie die Frage außer Acht lässt, warum große Bevölkerungsgruppen sich so und nicht anders verhalten haben. So lag es für eine jüngere Generation von Archäologen nahe, nach anderen Gründen für den Wandel materieller Kulturen zu suchen. Das Profil einer materiellen Kultur kann durch vieles tiefgreifend verändert werden, vom Wandel religiöser Überzeugungen über neue landwirtschaftliche Techniken bis hin zu sozialen Entwicklungen. Inzwischen wird die Invasionshypothese von manchen auf das Frühmittelalter spezialisierten Historiker so vehement abgelehnt, dass jede Quelle als verdächtig gilt, die von solchen Phänomenen berichtet.
    Ein zentrales Anliegen meines Buches war eine unvoreingenommene Prüfung der Belege für Migrationen im 1. Jahrtausend und deren Bewertung nach den Kriterien der modernen Migrationsforschung. Dabei entdeckte ich, dass die Zeugnisse über Migrationsbewegungen im 1. Jahrtausend viel reichhaltiger und umfassender sind, als in den letzten Jahren zuweilen behauptet wurde. Die tief verwurzelte Abneigung gegen den Begriff Migration hat die Diskussion von entscheidenden Ereignissen des 1. Jahrtausends abgelenkt, deren plausibelste Rekonstruktion erschwert und damit den Blick auf grundlegende Entwicklungsmuster verstellt.
    Die vergleichende Migrationsforschung lässt keinen Zweifel daran, dass es zum Verhaltensrepertoire des Homo sapiens gehört, mittels Ortsveränderung – sprich Migration – seine Lebenssituation zu verbessern. Dabei geht es nicht zuletzt um Zugang zu besseren Nahrungsquellen und allen anderen Formen von Reichtum. Die Größe einer Migrationseinheit, ihre Motivationsstruktur, ihr angestrebter Zielort und andere Aspekte können variieren. In der jüngeren Diskussion haben sich zwei Migrationsmodelle herausgeschält: Der »Eliteaustausch« bei der Migration großer Gruppen und das »wave of advance«-Modell bei kleineren Migrationseinheiten. Ihr Reiz liegt vor allem darin, dass sie die alte Invasionshypothese weit hinter sich lassen. Der Eliteaustausch geht von einer kleinen Zahl von Migranten aus, die nur begrenzte Veränderungen zur Folge hat. Was ist schon dabei, die eine Elite durch eine andere zu ersetzen? Das »wave of advance«-Modell hingegen setzt gemischte Migrationseinheiten voraus – im Wesentlichen Familien –, deren Besiedlung neuer Landstriche schrittweise, langsam, weitgehend friedlich und ungeplant vor sich ging. Doch wie viele Migrationsbewegungen des 1. Jahrtausends lassen sich mit diesen beiden Modellen überzeugend beschreiben?

    Migrationsmodelle
    Ein klassisches und gut dokumentiertes Beispiel für einen Eliteaustausch ist die Eroberung Englands durch die Normannen im Jahr 1066. Wie aus dem Doomsday Book hervorgeht, übernahm in den beiden darauffolgenden Jahrzehnten die eingewanderte, im Kern normannische Elite die landwirtschaftlichen Güter, indem sie die bisherigen Grundeigentümer gewaltsam vertrieb oder enteignete. Aber die überwältigende Mehrheit der alteingesessenen Bevölkerung blieb, wo sie schon vor der Ankunft der Normannen gelebt hatte. Auch erinnern zumindest einige Aspekte der Wielbark-Expansion im 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert und ihres späteren slawischen Pendants, vor allem die Ausbreitung der Korčak-Bauern im weitgehend unbesiedelten mitteleuropäischen Bergland, an das »wave of advance«-Modell. Nimmt man jedoch das 1. Jahrtausend insgesamt in den Blick, erscheinen diese Modelle viel zu vereinfacht und begrenzt, um die dokumentierten Migrationen beschreiben zu können.
    Beide Modelle müssen gründlich überholt werden, denn entweder vermischen sie unterschiedliche
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