Intrige (German Edition)
das Maul aufzureißen ist für einen Offizier unverzeihlich – und dann auch noch in einer so sensiblen Angelegenheit wie dieser. Er muss betrunken gewesen sein. Eigentlich müsste ich sofort nach Paris ins Kriegsministerium fahren. Aber dann denke ich an meine Mutter, die vermutlich genau in diesem Augenblick auf ihren Knien für meine unsterbliche Seele betet, und komme zu dem Schluss, dass ich wahrschein lich besser dran bin, wenn ich mich heraushalte.
Und so verläuft der Tag wie geplant. Ich befreie meine Mutter aus den Fängen zweier Nonnen, wir gehen zu ihrer Wohnung zurück, und um Mittag holt uns die Kutsche meines Cousins Edmond Gast ab und fährt uns zum Essen in sein Haus im nicht weit entfernten Dorf Ville-d’Avray, zu einer angenehmen, ungezwungenen Zusammenkunft von Familienmitgliedern und Freunden: die Art von Freunden, die man schon so lange kennt, dass sie sich wie Familie anfühlen. Edmond ist ein paar Jahre jünger als ich, aber schon Bürgermeister von Ville-d’Avray und einer jener glücklichen Zeitgenossen, die ein Talent fürs Leben haben. Er gärtnert, malt, geht auf die Jagd, verdient sein Geld mit leichter Hand, gibt es ebenso leicht wieder aus und liebt seine Frau. Kein Wunder, Jeanne ist immer noch so schön wie ein Mädchen von Renoir. Ich beneide niemand, aber wenn ich jemand be neiden wollte, dann Edmond. Am Esstisch neben Jeanne sitzt Louis Leblois, mit dem ich zur Schule gegangen bin. Neben mir sitzt seine Frau Martha, mir gegenüber Pauline Romazzotti, die trotz ihres italienischen Nachnamens mit uns in der Nähe von Straßburg aufgewachsen ist und die jetzt mit einem Beamten aus dem Außenministerium verheiratet ist, Philippe Monnier, einem Mann, der acht oder zehn Jahre älter als alle anderen ist. Sie trägt ein schlichtes, graues Kleid mit weißem Saum, von dem sie weiß, dass ich es mag, weil es mich an ein Kleid erinnert, das sie als Achtzehnjährige getragen hat.
Außer Monnier sind alle am Tisch Exilanten aus dem Elsass. Niemand lässt ein gutes Haar an unserem elsässischen Landsmann Alfred Dreyfus, nicht einmal Edmond, der ein radikaler Republikaner ist. Wir alle können mit Geschichten über Juden vor allem aus Mülhausen aufwarten, die sich, als es kritisch wurde und sie sich nach dem Krieg die Staatsbürgerschaft aussuchen konnten, für Deutschland anstatt für Frankreich entschieden.
»Sie drehen sich nach dem Wind, je nachdem, wer gerade die Macht hat«, erklärt Monnier und schwenkt dabei sein Weinglas hin und her. »Nur so hat ihre Rasse zweitausend Jahre überlebt. Daraus kann man ihnen wirklich keinen Vorwurf machen.«
Nur Leblois erlaubt sich den Hauch eines Zweifels. »Wohlgemerkt, als Jurist bin ich prinzipiell gegen Geheimprozesse, und ich gebe zu, dass ich mich schon frage, ob man einem christlichen Offizier auf gleiche Weise die übliche juristische Vorgehensweise verweigert hätte – besonders da laut Le Figaro die Beweislage gegen ihn anscheinend sehr dünn war.«
»Ja, ihm wurde, wie du das nennst, die übliche juristische Vorgehensweise verweigert, Louis«, sage ich kühl. »Aber nur weil in seinem Fall Belange der nationalen Sicherheit berührt waren, und die konnten nicht in öffentlicher Sitzung verhandelt werden, egal wer der Angeklagte war. Außerdem gab es jede Menge Beweise gegen ihn: Das kann ich dir mit absoluter Sicherheit sagen!«
Als Pauline mich mit gerunzelter Stirn anschaut, wird mir klar, dass ich laut geworden bin. Alle schweigen. Louis zupft an seiner Serviette und sagt nichts mehr. Er will nicht die Stimmung verderben, und Pauline, ganz Diplomatengattin, nutzt die Gelegenheit und lenkt das Gespräch auf ein geeigneteres Thema.
»Habe ich dir eigentlich schon von dem wunderbaren neuen elsässischen Restaurant in der Rue Marbeuf erzählt, das Philippe und ich entdeckt haben …«
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Es ist fünf Uhr, als ich zu Hause ankomme. Meine Wohnung liegt im sechzehnten Arrondissement, in der Nähe der Place Victor-Hugo. Die Adresse klingt eleganter, als ich es in Wirklichkeit bin. Ich habe nur zwei kleine Zimmer im vierten Stock, und selbst dafür muss ich mich mit meinem Majors sold nach der Decke strecken. Ich bin kein Dreyfus mit einem Privateinkommen, das zehnmal so hoch wie mein Gehalt ist. Aber es hat schon immer meinem Naturell entsprochen, die vorzügliche Kleinigkeit einer Fülle von Mittelmaß vorzuziehen. Ich komme so eben zurecht.
Ich trete von der Straße ins Haus und bin gerade ein paar Schritte auf die Treppe
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