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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition)
Autoren: Robert Harris
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Wir fahren zur École Militaire, wo ich den Kutscher bitte zu warten. Die Stille auf dem riesigen verlassenen Exerzierplatz verhöhnt mich. Die einzigen Lebenszeichen stammen von den Arbeitern, die die Abfälle von der Place de Fontenay räumen. Ich kehre zur Droschke zurück und sage dem Kutscher, dass er mich so schnell wie möglich zum Hauptquartier des Militärgouverneurs von Paris an der Place Vendôme bringen solle. Dort warte ich in der Eingangshalle des düsteren und heruntergekommenen Ge bäudes auf Oberst Guérin. Er lässt sich Zeit, und als er schließlich auftaucht, vermittelt er mir den Eindruck, dass ich ihn bei einem guten Essen gestört habe, zu dem er möglichst schnell wieder zurückkehren möchte.
    »Ich habe das alles schon General Gonse erklärt.«
    »Es tut mir leid, Herr Oberst. Würden Sie es mir bitte auch erklären?«
    Er seufzt. »Hauptmann Lebrun-Renault war eingeteilt, um Dreyfus im Garnisonsbüro bis zu Beginn der Zeremonie im Auge zu behalten. Er übergab ihn der Eskorte, und ge rade als die Degradierung begann, stieß er zu unserer Gruppe und sagte etwas in der Art: Verdammt, jetzt hat dieser Dreckskerl gerade alles zugegeben.«
    Ich ziehe mein Notizbuch aus der Tasche. »Was hat der Hauptmann gesagt, was Dreyfus ihm erzählt hat?«
    »An die genauen Worte kann ich mich nicht erinnern. Im Wesentlichen, dass er Geheimnisse an die Deutschen weitergegeben hätte, dass sie aber nicht von großer Bedeutung gewesen seien und der Minister das wisse, und dass in ein paar Jahren die ganze Geschichte herauskommen werde. Etwas in der Art. Sie müssen mit Lebrun-Renault darüber reden.«
    »Das werde ich. Wo ist er?«
    »Ich habe keine Ahnung. Er hat dienstfrei.«
    »Ist er in Paris?«
    »Mein lieber Herr Major, woher soll ich das wissen?«
    »Ich verstehe das nicht«, sage ich. »Warum sollte Dreyfus plötzlich gegenüber einem völlig Fremden seine Schuld eingestehen, nachdem er drei Monate lang geleugnet hat, in so einem Augenblick, wo es nichts mehr für ihn zu gewinnen gibt?«
    »Da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen.« Der Oberst schaut sich in Richtung seines Essens um.
    »Und wenn er gerade erst Hauptmann Lebrun-Renault gestanden hat, warum geht er dann raus und ruft vor Zehntausenden von feindseligen Menschen, dass er unschuldig ist?«
    Der Oberst drückt die Schultern durch. »Wollen Sie einen meiner Offiziere der Lüge bezichtigen?«
    »Ich danke Ihnen, Herr Oberst.« Ich stecke mein Notizbuch ein.
    Im Ministerium gehe ich sofort zu Gonse’ Büro. Er müht sich mit einem Stapel Akten ab. Er legt die Füße auf den Schreibtisch und lehnt sich zurück, während ich Bericht erstatte. »Sie glauben also, dass da nichts dran ist?«, sagt er.
    »Nein. Nicht nachdem ich die Einzelheiten gehört habe. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass dieser tumbe Hauptmann der Garde etwas in den falschen Hals bekommen hat. Entweder das, oder er hat eine Geschichte ausgeschmückt, um sich vor seinen Kameraden wichtigzumachen.« Ab schließend füge ich hinzu: »Natürlich gehe ich davon aus, dass Dreyfus kein auf die Deutschen angesetzter Doppelagent war.«
    Gonse lacht und zündet sich eine neue Zigarette an. »Schön wär’s.«
    »Was soll ich jetzt tun, Herr General?«
    »Ich wüsste nicht, was es da groß zu tun gäbe.«
    Ich zögere.
    »Es gibt natürlich eine Möglichkeit, wie wir eine eindeutige Antwort bekommen könnten.«
    »Und die wäre?«
    »Wir fragen Dreyfus.«
    Gonse schüttelt den Kopf. »Völlig ausgeschlossen. Eine Kontaktaufnahme ist nicht mehr möglich. Außerdem wird er schon bald aus Paris abtransportiert.« Er nimmt die Füße vom Tisch und zieht einen Stapel Akten zu sich heran. Zigarettenasche fällt vorn auf seinen Uniformrock. »Überlassen Sie das einfach mir. Ich werde dem Chef des Generalstabs und dem Minister alles erklären.« Er öffnet einen Ordner und fängt an zu lesen. Er schaut nicht mehr auf. »Danke, Major Picquart. Sie können wegtreten.«

2
    Am Abend fahre ich in Zivilkleidung hinaus nach Versailles, um meine Mutter zu besuchen. Der Zug schwankt durch verschneite Pariser Vororte, deren Umrisse sich im Licht der Gaslaternen bizarr abzeichnen. Die Fahrt dauert fast eine Stunde. Ich habe den zugigen Waggon für mich allein und versuche einen Roman zu lesen, Der Jüngling von Dostojewski, aber jedes Mal, wenn wir über eine Weiche fahren, gehen die Lichter aus, und die Zeilen verschwinden in der Dunkelheit. Im blau glänzenden Licht der Notbeleuchtung schaue
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