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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition)
Autoren: Robert Harris
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sein.«
    Ich habe schon den Türgriff in der Hand und fühle mich angesichts all des Lobes angemessen geschmeichelt, als Merciers Stimme plötzlich noch einmal erklingt. »Ach, sagen Sie, ist eigentlich irgendwann mal mein Name erwähnt worden?«
    »Pardon?« Ich bin mir nicht sicher, was er meint. »Er wähnt in welchem Zusammenhang?«
    »Während der Zeremonie heute Morgen …«
    »Ich glaube nicht …«
    »Nun ja, spielt ja auch keine Rolle.« Mercier macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe mich nur gefragt, ob es in der Menge irgendeine Art von Demonstration gegeben hat.«
    »Nein, nicht dass es mir aufgefallen wäre.«
    »Gut. Das habe ich auch nicht erwartet.«
    Ich schließe leise die Tür hinter mir.
    •
    Ich trete wieder hinaus in die windige Schlucht der Rue Saint- Dominique, setze meine Mütze auf und gehe die hundert Meter zum benachbarten Kriegsministerium. Ich treffe niemand. Vermutlich haben meine Offizierskollegen an einem Samstag Besseres zu tun, als sich mit der Bürokratie der französischen Armee herumzuplagen. Schlaue Burschen! Ich werde meinen offiziellen Bericht schreiben, meinen Schreibtisch aufräumen und dann versuchen, mir Dreyfus aus dem Kopf zu schlagen. Ich gehe die Treppe hinauf und weiter durch den Korridor zu meinem Büro.
    Seit Napoleons Zeiten ist das Kriegsministerium in vier Abteilungen gegliedert: die Erste Abteilung ist für die Verwaltung zuständig, die Zweite für den Geheimdienst, die Dritte für Einsätze und Ausbildung, die Vierte für Transport. Ich arbeite in der Dritten, unter dem Kommando von Oberst Boucher, der – ebenfalls ein schlauer Bursche – an diesem Morgen nirgendwo zu sehen ist. Als sein Stellvertreter habe ich ein eigenes kleines Büro, eine kahle Mönchszelle mit einem Fenster auf einen trostlosen Innenhof. Mein gesamtes Mobiliar besteht aus zwei Stühlen, einem Schreibtisch und einem Aktenschrank. Die Heizung funktioniert nicht. Die Luft ist so kalt, dass ich meinen Atem sehen kann. Ich sitze im Mantel am Schreibtisch und betrachte den Berg Papiere, der sich in den letzten Tagen angesammelt hat. Seufzend greife ich nach einem der Ordner.
    Es muss ein paar Stunden später sein, am frühen Nachmittag, als ich schwere Stiefelschritte höre, die im verlassenen Korridor näher kommen. Wer immer das ist, er geht an meinem Büro vorbei, bleibt stehen, geht zurück und verharrt dann vor meiner Tür. Ich stehe auf, gehe leise zur Tür und lausche. Das Holz ist so dünn, dass ich sein keuchendes Atmen hören kann. Ich reiße die Tür auf und blicke dem Leiter der Zweiten Abteilung ins Gesicht – sprich, dem Chef des gesamten militärischen Geheimdienstes.Ich bin mir nicht recht sicher, wer von uns beiden verwirrter ist.
    »General Gonse«, sage ich und salutiere. »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie das sind.«
    Gonse ist berühmt für seine Vierzehnstundentage. Ich hätte es wissen können. Wenn überhaupt jemand um diese Zeit noch im Haus ist, dann er. Seine Feinde sagen, anders könne er seine Spitzenposition nicht halten.
    »Schon in Ordnung, Major Picquart. Das Haus ist ein Kaninchenbau. Darf ich?« Er zieht an seiner Zigarette und watschelt auf seinen kurzen Beinen in mein Büro. »Tut mir leid, dass ich Sie störe. Ich habe gerade von der Place Ven dôme eine Nachricht von Oberst Guérin bekommen. Er sagt, dass Dreyfus bei der Zeremonie heute Morgen gestanden hat. Wussten Sie das?«
    Ich glotze ihn an wie ein Volltrottel. »Nein, Herr General, das wusste ich nicht.«
    »Anscheinend hat er in der halben Stunde vor der Zeremonie dem Hauptmann, der ihn bewachte, erzählt, dass er die Dokumente den Deutschen doch übergeben hat.« Gonse zuckt mit den Achseln. »Ich dachte, Sie sollten das wissen, da Sie ja vom Minister den Auftrag hatten, die Zeremonie zu beobachten.«
    »Aber ich habe ihm schon Bericht erstattet …« Ich bin fassungslos. Das ist genau die Art von Inkompetenz, die einen Mann die Karriere kosten kann. Trotz erdrückender Beweise gegen ihn hat es Dreyfus seit Oktober abgelehnt, seine Schuld zu gestehen. Und jetzt erzählt man mir, dass er schließlich doch gestanden habe, praktisch unter meinen Augen, und ich habe es nicht mitbekommen! »Ich mache mich am besten auf den Weg und gehe der Sache auf den Grund.«
    »Das würde ich auch vorschlagen. Und danach kommen Sie zurück und erstatten mir Bericht.«
    Wieder haste ich hinaus in das frostige, graue Halbdunkel. Am Stand an der Ecke zum Boulevard Saint-Germain steige ich in eine Droschke.
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