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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition)
Autoren: Robert Harris
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Leben bleibt«, sagt Mercier schließlich. »Der Tod wäre vor allem für ihn selbst das Beste. Was für ein Leben hat er jetzt noch vor sich? Es wäre menschlicher gewesen, ihm den Garaus zu machen. Deshalb wollte ich, dass die Abgeordnetenkammer die Todesstrafe für Landesverrat wieder einführt.«
    Boisdeffre nickt unterwürfig. »Sie haben Ihr Bestes getan, Herr Minister.«
    Merciers Kniegelenke knacken, während er sich langsam erhebt. Ich stehe ebenfalls auf. Er geht zu einem großen Globus, der sich in einem Gestell neben seinem Schreibtisch befindet. Er winkt mich zu sich, setzt eine Brille auf und schaut wie eine kurzsichtige Gottheit hinunter auf die Erde.
    »Er muss an einen Ort verbannt werden, wo es ihm unmöglich ist, mit irgendwem zu reden. An einen Ort, von wo er keine weiteren verräterischen Botschaften herausschmuggeln kann. Und, was genauso wichtig ist, wo niemand mit ihm in Kontakt treten kann.«
    Der Minister berührt mit seiner überraschend zartgliedrigen Hand die nördliche Halbkugel und dreht sachte den Globus. Der Atlantik gleitet vorbei. Er hält den Globus an und zeigt auf einen Punkt vor der Küste von Südamerika, siebentausend Kilometer von Paris entfernt. Er schaut mich an und wartet mit erhobener Augenbraue auf meine Vermutung.
    »Die Strafkolonie in Cayenne«, sage ich.
    »Fast, aber noch sicherer.« Er beugt sich vor und tippt auf die Stelle. »Die Teufelsinsel: fünfzehn Kilometer vor der Küste. Da wimmelt es von Haien. Wegen der riesigen Wellen und starken Strömung kann man kaum mit einem Boot anlanden.«
    »Ich dachte, die hätte man schon vor Jahren geschlossen.«
    »Stimmt. Zuletzt war da eine Strafkolonie mit Leprakranken. Dafür brauche ich die Zustimmung der Abgeordnetenkammer, aber diesmal bekomme ich sie. Die Insel wird speziell für Dreyfus wieder in Betrieb genommen. Nun, was sagen Sie dazu?«
    Meine erste Reaktion ist Überraschung. Mercier, der mit einer Engländerin verheiratet ist, gilt als Republikaner und Freidenker – er lehnt es zum Beispiel ab, in die Kirche zu gehen. Ich bewundere diese Eigenschaften, und trotzdem, er hat etwas von einem besessenen Jesuiten. Teufelsinsel, denke ich. Wir stehen kurz vor dem zwanzigsten Jahrhundert, nicht dem achtzehnten …
    »Nun?«, sagt er noch einmal. »Was meinen Sie?«
    »Hat das nicht einen Hauch von …« Ich wähle das Wort mit großem Bedacht, da ich nicht taktlos erscheinen will. »… Dumas?«
    »Dumas? Was meinen Sie mit Dumas?«
    »Nur dass es sich anhört wie eine Bestrafung aus einem historischen Roman. Es klingt nach Der Mann mit der eisernen Maske. Wird Dreyfus dann nicht als Der Mann auf der Teufelsinsel bekannt werden? Es wird ihn zum berühmtesten Sträfling der Welt machen …«
    »Genau!«, ruft Mercier und schlägt sich in einem seltenen Gefühlsausbruch auf die Schenkel. »Das genau ist es, was mir daran so gefällt. Es fesselt die Fantasie der Öffentlichkeit.«
    Ich beuge mich seinem überlegenen politischen Urteilsvermögen, frage mich aber gleichzeitig, was die Öffentlichkeit damit zu tun hat. Erst als ich schon meinen Mantel in der Hand habe, gibt er mir einen Hinweis.
    »Gut möglich, dass Sie mich heute zum letzten Mal in diesem Büro angetroffen haben«, sagt der Minister.
    »Tut mir leid, das zu hören, Herr General.«
    »Sie sollten wissen, dass mich Politik nicht sonderlich interessiert. Ich bin Berufssoldat, kein Politiker. Wie es scheint, herrscht große Unzufriedenheit mit den Parteien. Möglicher weise wird diese Regierung nur noch ein oder zwei Wochen Bestand haben. Vielleicht werden wir sogar einen neuen Präsidenten bekommen.« Er zuckt mit den Achseln. »Wie auch immer, so ist es nun mal. Wir Soldaten dienen da, wo man uns hinstellt.« Er schüttelt mir die Hand. »Sie haben mich während dieser elenden Dreyfus-Affäre mit Ihrem Scharfsinn beeindruckt, Major Picquart. Das wird man ihm nicht vergessen, oder, Herr General?«
    »Nein, Herr Minister.« Boisdeffre steht ebenfalls auf und schüttelt mir die Hand. »Danke, Picquart. Höchst aufschluss reich. Fast so, als wäre man selbst dabei gewesen. Ach, übrigens, wie geht es Ihren Russischstudien?«
    »Ich bezweifele, dass ich die Sprache jemals werde sprechen können, Herr General, aber inzwischen kann ich schon Tolstoi lesen – mit Wörterbuch natürlich.«
    »Ausgezeichnet. Zwischen Frankreich und Russland sind große Dinge im Entstehen. Eine gute Kenntnis des Russischen wird für einen aufstrebenden Offizier von großem Nutzen
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