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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition)
Autoren: Robert Harris
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ich aus dem Fenster und stelle mir Dreyfus in seiner Zelle im Gefängnis La Santé vor. Häftlinge werden in umgebauten Viehwaggons transportiert. Ich nehme an, dass man ihn zu einem Atlantikhafen im Westen bringt, wo er dann auf seine Deportation wartet. Bei diesem Wetter wird die Reise die Hölle sein. Ich schließe die Augen und versuche ein bisschen zu schlafen.
    Meine Mutter hat eine kleine Wohnung in einer neuen Straße in der Nähe des Bahnhofs von Versailles. Sie ist siebenundsiebzig, seit fast dreißig Jahren Witwe und lebt allein. Meine Schwester und ich besuchen sie abwechselnd. Anna ist älter als ich und hat im Gegensatz zu mir Kinder. Ich besuche unsere Mutter immer am Samstagabend, die einzige Zeit, in der ich nicht im Ministerium sein muss.
    Als ich ankomme, ist es schon dunkel. Die Temperatur liegt bei minus zehn Grad. Hinter der verschlossenen Tür ruft meine Mutter: »Wer ist da?«
    »Ich bin’s, Maman, Georges.«
    »Wer?«
    »Georges, dein Sohn.«
    Es dauert eine Minute, bis ich sie überredet habe, mir aufzumachen. Manchmal hält sie mich für meinen älteren Bruder Paul, der vor fünf Jahren gestorben ist. Manchmal – was mir seltsamerweise schlimmer vorkommt – für meinen Vater, der gestorben ist, als ich elf war. (Eine andere Schwester ist noch vor meiner Geburt gestorben, ein Bruder, als er elf Tage alt war. Etwas hat Altersschwäche für sich – seit ihr Geist sie verlassen hat, braucht sie keine Gesellschaft mehr.)
    Brot und Milch sind steinhart gefroren, die Wasserleitun gen vereist. Die erste halbe Stunde bringe ich damit zu, Feuer zu machen und die Wohnung einigermaßen aufzutauen, die zweite auf dem Rücken liegend, um einen tropfenden Abfluss zu reparieren. Wir essen das Bœuf bourguignon, das das Mädchen, das einmal am Tag kommt, beim Traiteur im Ort gekauft hat. Maman hat sich gefangen, sie scheint sich sogar daran zu erinnern, wer ich bin. Ich erzähle ihr von meinem Tag, erwähne aber weder Dreyfus noch seine Degradierung: Sie würde sich nur damit herumquälen zu verstehen, worüber ich da rede. Später setzen wir uns ans Klavier, das den meisten Platz in ihrem winzigen Wohnzimmer einnimmt, und spielen ein Duett, ein Rondo von Chopin. Sie spielt fehlerlos. Der musikalische Teil ihres Gehirns ist noch ziemlich intakt, er wird sie als Letztes verlassen. Nachdem sie zu Bett gegangen ist, setze ich mich wieder auf den Hocker und betrachte die Fotos auf dem Klavier: die ernsten Familienporträts in Straßburg, den Garten des Hauses in Geudertheim, eine winzige Fotografie meiner Mutter als Musikstudentin, ein Picknick in den Wäldern von Neudorf – Artefakte aus einer verschwundenen Welt, einem Atlantis, das in der Belagerung untergegangen ist.
    Ich war sechzehn, als die Deutschen Straßburg bombardierten und mir freundlicherweise Gelegenheit gaben, aus erster Hand Zeuge eines Ereignisses zu werden, das wir in der Ausbildung an der École Supérieure de Guerre als den ersten »flächenmäßigen Einsatz von modernen Langstrecken geschützen zur gezielten Dezimierung der Zivilbevölkerung« bezeichnen. Ich habe gesehen, wie die Kunstgalerie und die Bibliothek der Stadt bis auf die Grundmauern niederbrannten und ganze Stadtviertel in die Luft gesprengt wurden, habe neben sterbenden Freunden gekniet, habe mitgeholfen, fremde Menschen aus dem Schutt auszubuddeln. Nach neun Wochen kapitulierte die Garnison. Man stellte uns vor die Wahl, zu bleiben und Deutsche zu werden oder alles auf zugeben und nach Frankreich zu gehen. Wir erreichten Paris mittellos, aller Illusionen von einem gesicherten, zivilisierten Leben beraubt.
    Vor der Demütigung von 1 8 7 0 / 7 1 wäre ich vielleicht Musikprofessor geworden. Danach wäre mir jede andere berufliche Laufbahn als die in der Armee anstößig vorgekommen. Das Kriegsministerium kam für meine Ausbildung auf, und so wurde das Militär mein Vater. Und niemals hat sich ein Sohn gewissenhafter darum bemüht, seinen anspruchsvollen Vater zufriedenzustellen. Mein etwas träumerisches, künstlerisches Wesen kompensierte ich mit eiserner Disziplin. An der Militärakademie Saint-Cyr war ich in einem Jahrgang mit dreihundertvier Kadetten der Fünftbeste. Ich spreche deutsch, italienisch, englisch und spanisch. Für meinen Einsatz im Aurès-Gebirge in Nordafrika hat man mir die Médaille Coloniale verliehen, für meinen Einsatz am Roten Fluss in Indochina die Tapferkeitsmedaille. Ich bin Ritter der Ehrenlegion. Und heute, nach vierundzwanzig Jahren im
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