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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition)
Autoren: Robert Harris
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zugegangen, als ich hinter mir die Stimme der Concierge höre. »Major Picquart.« Ich drehe mich um und sehe Madame Guerault, die mit einer Visitenkarte wedelt. »Ein Offizier wollte Sie sprechen«, verkündet sie und kommt auf mich zu. »Ein General.«
    Ich nehme die Karte. General Charles-Arthur Gonse, Kriegs ministerium steht da geschrieben. Auf der Rückseite hat er seine Privatadresse notiert.
    Seine Wohnung befindet sich in der Nähe der Avenue du Bois de Boulogne, sodass ich leicht zu Fuß gehen kann. Fünf Minuten später klingele ich. Als sich die Tür öffnet, steht ein vollkommen anderer Mann vor mir als der entspannte Bur sche von gestern Nachmittag. Er ist nicht rasiert, die Tränensäcke unter seinen Augen sind dunkel und zeugen von großer Erschöpfung. Sein Uniformrock steht bis zur Taille offen, darunter ist ein etwas schmuddeliges Unterhemd zu sehen. Er hält ein Glas Kognak in der Hand.
    »Picquart. Gut, dass Sie kommen.«
    »Entschuldigen Sie, dass ich nicht in Uniform bin, Herr General.«
    »Macht nichts. Schließlich ist Sonntag.«
    Ich folge ihm durch die dunkle Wohnung. »Meine Frau ist auf dem Land«, sagt er zur Erklärung, wobei er sich halb umdreht. Wir gehen in einen Raum, der anscheinend sein Arbeitszimmer ist. Über dem Fenster hängt ein Paar ge kreuzter Speere – Erinnerungsstücke an seine Dienstzeit in Nordafrika, nehme ich an. Auf dem Kaminsims steht eine Fotografie, die ihn vor fünfundzwanzig Jahren als jungen Offizier des Generalstabs im 1 3 . Armeekorps zeigt. Er schenkt sich aus einer Karaffe nach und gießt mir auch ein Glas ein, lässt sich dann ächzend auf die Chaiselongue fallen und zündet sich eine Zigarette an.
    »Diese verdammte Dreyfus-Affäre«, sagt er. »Die bringt uns alle noch ins Grab.«
    Ich versuche mich an einer lockeren Antwort – »Wirklich? Ich würde es vorziehen, ein wenig heldenhafter in die Grube zu fahren!« –, aber Gonse schaut mich mit ernsthafter Miene an.
    »Mein lieber Picquart, anscheinend begreifen Sie nicht: Wir stehen inzwischen hauchdünn vor einem Krieg. Ich bin seit ein Uhr letzte Nacht auf den Beinen, und das nur wegen dieses verdammten Idioten Lebrun-Renault!«
    »Mein Gott!« Fassungslos stelle ich meinen unberührten Kognak ab.
    »Ich weiß, es ist kaum zu glauben, dass das Geschwätz eines Idioten so eine Katastrophe auslösen kann«, sagt er. »Aber es stimmt.«
    Er erzählt mir, er sei eine Stunde nach Mitternacht von einem Boten aus dem Kriegsministerium geweckt und ins Hôtel de Brienne zitiert worden. Dort traf er Mercier im Morgenrock und einen Privatsekretär aus dem Élysée-Palast an, der die ersten Ausgaben der Pariser Zeitungen mitgebracht hatte. Der Privatsekretär wiederholte für Gonse, was er gerade Mercier erzählt hatte: Der Präsident sei aufgebracht – empört! entsetzt! – über das, was er gerade gelesen habe. Wie es sein könne, dass ein Offizier der Republikanischen Garde solche Geschichten in Umlauf bringe – insbesondere dass die französische Regierung ein Dokument aus der deutschen Botschaft gestohlen habe und das Ganze eine Art Spionagefalle für die Deutschen gewesen sei? Ob der Kriegsminister wisse, dass der deutsche Botschafter noch am selben Nachmittag im Élysée eine formale Protestnote aus Berlin überreicht habe? Dass der deutsche Kaiser damit drohe, seinen Botschafter aus Paris abzuberufen, sollte die französische Regierung nicht ein für alle Mal klarstellen, dass sie die Zusicherung der deutschen Regierung akzep tiere, niemals in irgendeinem Kontakt zu Hauptmann Alfred Dreyfus gestanden zu haben? Finden Sie ihn, lautete die Forderung des Präsidenten. Finden Sie diesen Hauptmann Lebrun-Renault und stopfen Sie ihm das Maul!
    Und so hatte sich General Arthur Gonse, der Chef des militärischen Geheimdienstes von Frankreich, in der demütigenden Lage wiedergefunden, sich eine Kutsche nehmen und von Haus zu Haus fahren zu müssen – zum Regimentsstab, zu Lebrun-Renaults Unterkunft, zu den Amüsierloka len an der Place Pigalle. Er stellte seine Beute schließlich kurz vor Morgengrauen im Moulin Rouge, wo der junge Haupt mann vor einem Publikum aus Reportern und Prostituierten immer noch große Reden schwang.
    An dieser Stelle muss ich mir den Zeigefinger auf die Lippen drücken, um mein Lächeln zu verbergen, da der Monolog nicht ohne Komik ist – umso mehr, als Gonse ihn mit heiserer, entrüsteter Stimme vorträgt. Ich kann nur ahnen, wie Lebrun-Renault sich gefühlt haben muss, als er
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