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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition)
Autoren: Robert Harris
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Dienst, haben mich der Kriegsminister wie der Chef des Generalstabs mit einem Anerkennungsschreiben belobigt. Als ich in Versailles im Gästezimmer meiner Mutter liege und der fünfte Januar 18 9 5 in den sechsten übergeht, höre ich in meinem Kopf nicht die Stimme des seine Unschuld be teuernden Alfred Dreyfus’, sondern die von Auguste Mercier, der meine Beförderung andeutet. Sie haben mich mit Ihrem Scharfsinn beeindruckt … Das wird man nicht vergessen …
    •
    Am nächsten Tag nehme ich unter dem Geläut der Glocken meine gebrechliche Mutter am Arm und begleite sie auf der vereisten Straße zur nahe gelegenen Kathedrale von Saint- Louis – einem meiner Meinung nach besonders schwülstigen Monument des staatlichen Aberglaubens. Warum konnten die Deutschen nicht das in die Luft jagen? Die Kirchgänger bilden eine eintönige Gemeinde in Schwarz und Weiß, Nonnen und Witwen. Am Eingang lasse ich ihren Arm los. »Ich hole dich nach der Messe hier wieder ab.«
    »Kommst du nicht mit?«
    »Ich komme doch nie mit, Maman. Jede Woche fragst du mich das Gleiche.«
    Sie schaut mich mit feuchten grauen Augen an. Ihre Stimme bebt. »Aber was soll ich Gott sagen?«
    »Sag ihm, dass ich im Café du Commerce gegenüber bin.«
    Ich überlasse sie der Obhut eines jungen Priesters und gehe über den Platz zu dem Café. Vorher kaufe ich noch zwei Zeitungen, Le Figaro und Le Petit Journal . Ich setze mich an einen Tisch am Fenster, bestelle Kaffee und zünde mir eine Zigarette an. Beide Blätter bringen die Degradierung auf der Titelseite – das Journal sogar fast nichts anderes. Der Artikel ist mit einer Serie plumper Zeichnungen bebildert: von Dreyfus, wie er auf den Exerzierplatz geführt wird, von dem rundlichen kleinen Beamten, wie er das Urteil verliest, von den Rangabzeichen, die man von Dreyfus’ Uniform gerissen hat, und von Dreyfus selbst, der mit seinen fünfunddreißig Jahren wie ein weißhaariger alter Mann aussieht. »Die Sühne« lautet die Schlagzeile. »Wir haben die Höchststrafe für den Landesverräter Dreyfus gefordert. Und wir sind immer noch der Überzeugung, dass die einzig angemessene Bestrafung der Tod ist …« Es ist, als hätten die seit der Niederlage von 1 8 7 0 angestaute Verachtung und Schuldzuweisung ihr Ventil in einer einzigen Person gefunden.
    Ich nippe an meinem Kaffee und überfliege die reißerische Schilderung der Zeremonie, bis mir plötzlich mehrere Sätze ins Auge springen: »Dreyfus wandte sich an seine Eskorte und sagte: ›Wenn ich Dokumente weitergegeben habe, dann nur deshalb, weil ich dafür andere von größerer Bedeutung in die Hand bekommen wollte. In drei Jahren wird die Wahrheit ans Licht kommen, und dann wird der Minister meinen Fall neu aufrollen.‹ Dieses halbe Geständnis ist das erste, das der Verräter seit seiner Verhaftung gemacht hat …«
    Ohne den Blick von der Zeitung abzuwenden, stelle ich langsam die Tasse ab und lese den Absatz noch einmal. Dann schaue ich in den Figaro . Auf der ganzen Titelseite kein Wort von irgendeinem Geständnis, ob halb oder sonst wie. Ich bin erleichtert. Aber auf der zweiten Seite steht eine nachge schobene Meldung, die mit folgenden Worten beginnt: »Hier der Bericht eines Zeugen, der uns vor einer Stunde erreicht hat …« Ich lese eine weitere Version der gleichen Geschichte, nur dass diesmal Lebrun-Renault als Quelle genannt wird und Dreyfus als authentische Stimme zweifelsfrei erkennbar ist. Ich kann die fieberhafte Verzweiflung, mit der er jeden überzeugen will, sogar den ihn bewachenden Offizier, aus jeder Zeile heraushören:
    Herr Hauptmann, hören Sie doch. In der Botschaft hat man einen Brief gefunden, in einem Schrank. Ein Begleitschreiben für vier andere Dokumente. Das hat man Schriftexperten vorgelegt. Drei sagen, ich hätte ihn geschrieben, zwei, dass ich es nicht war. Und nur deshalb hat man mich verurteilt. Mit achtzehn hat man mich an der École Polytechnique angenommen. Ich hatte eine herausragende Militärlaufbahn vor mir, ich hatte ein Vermögen von fünfhunderttausend Francs und die Aussicht auf ein Einkommen von fünfzigtausend im Jahr. Ich war nie hinter den Mädchen her. Ich habe in meinem ganzen Leben keine Spielkarte angerührt. Ich brauchte kein Geld. Warum also sollte ich zum Verräter werden? Für Geld? Nein. Warum also?
    Keine dieser Einzelheiten ist für die Öffentlichkeit bestimmt, und meine erste Reaktion ist, dass ich Lebrun-Renault als gottverdammten jungen Idioten verfluche. Vor Journalisten
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