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Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Titel: Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Autoren: Ruth Rendell
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    Tom Belbury starb im Mai. Inzwischen war der Sommer vorbei, aber Jim vermisste seinen Bruder Tom mehr denn je. Keiner von beiden hatte je geheiratet, und so gab es weder eine Witwe noch Kinder, nur die Hündin Honey. Jim nahm Honey, die er immer gern gehabt hatte, zu sich. Außerdem war es Toms Wunsch gewesen. Er hatte sich große Sorgen um Honey gemacht, als er erfahren hatte, dass er nicht mehr lange leben würde. Was würde wohl aus ihr werden, wenn er nicht mehr da wäre? Immer wieder hatte Tom davon angefangen, obwohl ihm Jim wiederholt versichert hatte, er würde Honey zu sich nehmen.
    »Hab ich’s denn nicht zigmal versprochen? Willst du, dass ich dir Brief und Siegel drauf gebe? Wenn du das willst, mach ich’s.«
    »Nein, ich vertrau dir. Sie ist ein braver Hund.«
    Tom hatte nicht auf den Falschen gesetzt. Das Cottage, in dem Jim wohnte, war schon das Elternhaus der beiden Brüder gewesen, und jetzt zog Honey bei ihm ein. Eine Schönheit war die Hündin nicht. Sie konnte ihren kunterbunten Stammbaum aus Spaniel, Basset und Jack Russel nicht leugnen. Tom hatte zwar immer behauptet, sie sehe wie ein Corgi aus, und da jeder wusste, dass die Königin Corgis hielt, habe der Hund sozusagen das königliche Gütesiegel. Das konnte Jim allerdings nicht erkennen. Trotzdem hatte er Honey immer mehr ins Herz geschlossen, denn abgesehen von ihrer treuen Zuneigung hatte sie noch eine großartige Eigenschaft: Sie war ein Trüffelhund.
    Jedes Jahr hatten Tom und Honey Anfang September das eine oder andere Waldstück in der Nähe von Flagford auf der Jagd nach Trüffeln durchkämmt. Viele Leute machten sich darüber lustig und behaupteten, Trüffel könne man nur in Frankreich und Italien finden, aber nicht in Großbritannien, obwohl Honey eindeutig welche fand und dafür mit einem Stück Fleisch belohnt wurde, während Tom die Trüffel an ein berühmtes Londoner Restaurant verkaufte, vierhundertfünfzig Gramm für zweihundert englische Pfund.
    Jim war der Geschmack der Knollen zuwider, aber für eine Summe von zweihundert Pfund oder vielleicht sogar noch mehr konnte er sich begeistern. Er wusste, wie eine Trüffeljagd ablief, auch wenn er Tom nie begleitet hatte. Deshalb konnte man ihn mit Honey an einem milden und sonnigen Septembermorgen im sogenannten vornehmen Viertel von Flagford finden. So nannten es jedenfalls die Nachbarn, denn links und rechts der Pump Lane erhoben sich inmitten ausgedehnter Parks die Anwesen von Flagford Hall und Athelstan House. Herr und Hund interessierten sich weder für diese Häuser noch für deren Bewohner. Ihr Ziel war Old Grimble’s Field, ein Eckgrundstück zwischen der Gartenanlage von Athelstan House und zwei völlig identischen, freistehenden Häusern namens Oak Lodge und Marshmead.
    Ähnlich wie beim Heiligen Römischen Reich, das laut Gibbon 1 weder heilig noch römisch gewesen war, geschweige denn ein Reich, handelte es sich bei diesem offenen Stück Land nicht um ein Feld, und Grimble war auch nicht sonderlich alt und hieß eigentlich auch nicht Grimble. Seit Jahren hatte sich niemand mehr um das völlig überwucherte, ungefähr viertausend Quadratmeter große Grundstück gekümmert. Schösslinge hatten sich in Bäume und Zwergsträucher sich in Büsche verwandelt, Rosen, Liguster und Hartriegel waren zu Hecken emporgeschossen, und die Bäume hatten inzwischen das doppelte Volumen. Irgendwo auf diesem üppigen Waldstück stand ein halbverfallener Bungalow, der Grimbles Vater gehört hatte. Die Fenster waren verrammelt, und allmählich rutschten immer mehr Ziegel vom Dach. Hier war Tom Belbury im Vorjahr mit Honey auf Trüffeljagd gegangen und hatte verkündet, es wachse ein wahrer Schatz an Exemplaren der Gattung Tuber heran.
    Tom hatte die Belohnung für Honey offen in der Brusttasche seiner Lederjacke herumgetragen und deshalb meistens nach nicht mehr ganz »taufrischem« Fleisch gerochen. Damals war Jim davon nicht sehr begeistert gewesen, aber jetzt erinnerte er sich liebevoll daran. Der gute alte Tom wäre ganz aus dem Häuschen gewesen, wenn er hätte sehen können, wie Jim und Honey wie zwei alte Kameraden Old Grimble’s Field ansteuerten, auf den Spuren von Toms alter Leidenschaft. Vielleicht kann Tom ja zusehen, dachte Jim wehmütig und stellte sich vor, wie Tom aus einem fernen Trüffelwald in himmlischen Gefilden herunterschaute.
    Honey war die Chefin. Tom hatte immer behauptet, sie würde sich von einem Schwarm Trüffelfliegen zu einem ganz bestimmten
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