Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
ihn morgen nach Gravesend zurückbringen. Sie hat so viel Spaß an seiner Gesellschaft, daß sie ihn gebeten hat, zum Abendessen zu bleiben. Als ich die beiden zuletzt sah, haben sie auf dem Balkon zusammen ‹Waltzing Matilda› gesungen.»
    «Er hat nämlich lange in Australien gelebt.»
    «Wer?»
    «Lord Summerston. Wir sind so ins Reden gekommen, Mr. Crick und ich, über die Hitze da unten. Wie trocken es dort war und trotzdem recht angenehm. Das Lied dürfte Lady Summerston natürlich sehr gefallen, wo ihr Mann doch dort war.»
    «Da könnten Sie recht haben», sagte Jury und legte auf. Irgendwie war es eine Gnade, daß Lady Summerston sich in die Vergangenheit zurückziehen konnte. Oder hatte sie sich etwa eingeredet, daß die Gärten von Watermeadows, die sie von ihrem Balkon aus überblickte, zu einem grandiosen Szenario in einem Spiel gehörten, für das sie gewissermaßen einen Logenplatz hatte? Wenn ihr die Darbietung nicht zusagte, konnte sie das Fernglas weglegen und ihre Briefmarken und Karten hervorholen.
     
    Bei Jurys Rückkehr speiste Melrose gerade Pâté auf dreieckigen Toastscheiben. Auf dem Fußboden neben Mindy stand ein Tellerchen mit Pâté und Trüffeln; sie schnüffelte daran und schlief wieder ein. «Undankbares Hundevieh.»
    «Wie wäre es mit Hundefutter? Schon mal probiert?» Jury langte zu.
    «Wenn man nun Hannah Lean als Sadie Diver festgenommen hätte? Es wäre doch alles herausgekommen, also ihre wahre Identität.»
    «Doppeltes Risiko. Und auf jeden Fall ein gewaltiger Rummel. Stellen Sie sich nur vor, was ein Verteidiger vor Gericht daraus machen würde. Eine Verdächtige, die unter falschem Namen festgenommen wurde. Glauben Sie wirklich, die Krone würde auf einer zweiten Runde gegen Hannah Lean bestehen? Ich bezweifle, daß sie sich überhaupt von ihm scheiden lassen wollte; ich glaube, sie war einfach irrsinnig eifersüchtig und sann auf Rache, und wer könnte ihr das verdenken? Sie wußte, daß nur sie als Verdächtige wirklich in Frage kam. Also hat sie seinen Plan übernommen. Ironie, was? Eine Art poetische Gerechtigkeit.»
    «Ich würde Sie ja beglückwünschen, nur wirken Sie gar nicht glücklich», sagte Melrose. «Wäre es Ihnen andersherum etwa lieber gewesen?»
    «Nein.»
    Melrose hob die Tasse. «Teufel auch, Richard, es ist Frühling. Lassen Sie uns zumindest darauf trinken.»
    Jury blickte durch das Zimmer in die Abenddämmerung hinaus und zum Spalier mit den Kletterrosen.
    «Auf die Freundschaft», sagte er, hob seine Kaffeetasse und sah zu, wie die weißen Blütenblätter sacht herabschneiten.

36
    F AST BÖSARTIG SCHIEN DER M OND auf dem Pfad und über dem See, den Jury auf seinem Weg vorbei am Sommerhaus einsehen konnte, so hell, daß es aussah, als sei das Wasser kristallisiert, von einer Eisschicht überzogen.
    Weil er den Spaziergang vom Sommerhaus zum Haupthaus gern machte, hatte er das Auto in der Parkbucht abgestellt und kam jetzt zu der Stelle, von wo aus er den Bootsanleger sehen konnte. Er blieb stehen, um die nach einem Potpourri von Blüten duftende Luft tief einzuatmen. Es raschelte in der Hecke, ein dunkler Schatten flatterte davon, irgendwo rief eine Eule; ein Ziegenmelker krächzte.
    Sein Blick wanderte zum Ende des Anlegers. Dort bewegte sich etwas. Die weiße Katze saß wie ein Seezeichen vor dem dunklen Hintergrund des Himmels. Sie hatte ihre nächtliche Runde unterbrochen und schien auf den See hinauszublicken.
    Eine Bö kam auf und warf eins der Ruderboote gegen die Pfähle. Das andere konnte er nicht sehen.
    Jedenfalls nicht, bis der Mond wieder hinter Wolkenfetzen hervorgetreten war und die Mitte des Sees plastisch erscheinen ließ. Das andere Ruderboot trieb ziellos draußen auf dem Wasser und drehte sich langsam im Kreis.
    Bei seiner Ausbildung hatte Schwimmen keine große Rolle gespielt, schließlich gehörte er nicht zur Themse-Division. Er war ein lausiger Schwimmer und brauchte wohl zweimal solange, wie Roy Marsh gebraucht hätte, bis er das Boot erreicht hatte.
     
    Sie lag mit dem Gesicht nach unten. Ihre Hand schleifte im Wasser wie bei einer vergnüglichen Stechkahnfahrt auf dem Cam. Ihr Kopf hing über die Bordkante, ihr Haar trieb schwarzen Bändern gleich hinter ihr her.
    Das Boot war klein, und Jury mußte sich beim Hochstemmen und Hineinklettern sehr in acht nehmen.
    Behutsam drehte er sie um, sah das viele Blut. An dem Unterarm, der ihr über die Brust fiel, sah er nur zögernde, fast prüfende Schnitte; die Wunde an dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher