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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy
Autoren: David Graeber
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entwickeln. Und meiner Ansicht nach ist das auch die offensichtlichste Erklärung dafür, dass sie 2008 das katastrophale Scheitern des Kapitalismus nicht zu nutzen verstand. In Europa gelang es vor allem den Rechtsparteien, Kapital aus der öffentlichen Entrüstung zu schlagen. Was daran liegt, dass die gemäßigte, die sozialdemokratische Linke vor langer Zeit schon dem Markt und der Bürokratie verfallen ist. Die Rechte, vor allem die extreme Rechte, tat sich nicht nur leichter, das blinde Vertrauen auf Marktlösungen abzulehnen, sie konnte auch bereits mit einer Kritik der Bürokratie aufwarten. Diese mag krude sein, unzeitgemäß und in vieler Hinsicht irrelevant, aber sie haben wenigstens eine Vision – während die Mainstreamlinke seit ihrer Absage an die Hippies, Kommunarden und Radikalen der 60er Jahre praktisch kritiklos dasteht.
    Und doch füllt die Bürokratie praktisch jeden Aspekt unseres Lebens in einem Maße wie nie zuvor. Bizarrerweise vermögen wir das weder so recht zu sehen noch darüber zu sprechen. Teils, weil wir die Bürokratie einfach als Aspekt des Staates hinzunehmen gewöhnt sind und dabei die oft weit mächtigeren privaten Bürokratien ignorieren, oder, entscheidender noch, weil öffentliche und private Bürokratien (Firmen, Banken, ja selbst Schulen) mittlerweile miteinander so verwoben sind, dass eine tatsächliche Unterscheidung zwischen ihnen kaum mehr möglich ist.
    Ich habe einmal gelesen, dass der Amerikaner im Durchschnitt ein halbes Jahr seines Lebens vor roten Ampeln steht. Ich weiß nicht, ob mal jemand ausgerechnet hat, wie viel Zeit man mit dem Ausfüllen von Formularen verbringt, aber ich vermute mal, es ist ein Beträchtliches mehr. Dabei geht es nicht nur um die staatlichen Institutionen mit ihren besonders abscheulichen Papierkramanforderungen. Formulare flattern vor al lem dann, wenn es um Geld geht. Der »freie Markt« hat zur Regulierung des weltweiten Handels ungeheure Verwaltungssysteme eingesetzt, die uns eine immense bürokratische Hingabebereitschaft abverlangen. Und das geht hin bis zu den intimsten Details des Alltagslebens, wo Technologien, die ursprünglich Arbeit sparen sollten, uns alle zu Amateurbuchhaltern, Anwaltsgehilfen und Reisekaufleuten gemacht haben.
    Aber im Gegensatz zu den 60er Jahren, als das Problem weit geringer war, scheint man in der Dokumentenflut heute kein Politikum mehr zu sehen. Um es jedoch noch mal zu sagen: Wir müssen die Welt um uns herum wieder sichtbar machen. Zumal unpolitische Leute sich instinktiv des Verdachts nicht erwehren können, dass gerade die Linke zu gar noch mehr Bürokratisierung führt. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist schier unmöglich, die Welt in noch höherem Maße zu bürokratisieren, als wir das jetzt schon tun. Aber jeder revolutionäre Wandel, selbst wenn er den Staat nicht völlig eliminiert, wird sicher weniger Bürokratie bedeuten als jetzt.
    Im Grunde kommunistisch
    Hier sehen wir uns vor der größten Herausforderung überhaupt. Aber wo wir schon dabei sind, warum nichts gleich aufs Ganze gehen?
    In den 80er Jahren setzte eine wirklich merkwürdige Entwicklung ein. In dieser Zeit begannen die Kapitalisten sich zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus selbst als »Kapitalisten« zu bezeichnen. Dengrößten Teil seines zweihundertjährigen Bestehens war der Begriff eher ein Schimpfwort gewesen. Die
New York Times
, die seinerzeit die treibende ideologische Kraft hinter der Popularisierung der später landläufigen Auffassung von Neoliberalismus war, marschierte vorneweg, mit einer endlosen Reihe von knalligen Schlagzeilen darüber, dass irgendein kommunistisches Regime, eine sozialistische Partei, eine Kooperative oder sonst eine augenscheinlich linke Einrichtung sich gezwungen sah, durch schiere Zweckmäßigkeit das eine oder andere Element des »Kapitalismus« anzunehmen. Verbunden war das mit dem endlos wiederholten Mantra, dass »Kommunismus einfach nicht funktioniert«.
    Aber dieses Mantra stand auch für einen ideologischen Salto rückwärts, vorgeturnt von rechten Spinnern wie Ayn Rand, unserer weiland Bestsellerautorin und Starphilosophin. Man vertauschte im Wesentlichen die Begriffe »Kapitalismus« und »Sozialismus«. War einst der Kapitalismus die ordinäre Realität gewesen und der Sozialismus das unrealisierte Ideal, so lief es jetzt anders herum. Und mit dem »Kommunismus« verhielt es sich noch extremer. Der stand ja selbst bei Regimen, die sich auf ihn beriefen, für eine
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