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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central
Autoren: William T. Vollmann
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Stahl in Bewegung
    Wie bisweilen Kleinigkeiten im Wesen eines Menschen ihn uns liebenswert machen, so erheiterte mich an Oberst Blumentritt sein unschlagbarer Fanatismus im Telefonieren.
    – Feldmarschall Erich von Manstein (1958)
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    Ein plumpes schwarzes Telefon, ein Tintenfisch, wollte ich sagen, der Gott unserer Fernmeldetruppe, hat einen Schlupfwinkel in Berlin (wahrscheinlicher noch in Moskau, das von einem deutschen General das Herz Russlands, das Herz eines großen Volkes getauft worden ist).
2 Irgendwo in Riffen aus Stahl erzittert ein mit Guttapercha umhüllter Draht: Hiermit erkläre ich …  … die kritische Lage … ein vernichtender Schlag. Aber weil sich die Herkunft der Phrasen nicht verbürgen lässt (und weil auf Mithören der Tod steht), empfiehlt es sich nicht, das Ohr an den Draht zu drücken, der sowieso vor elektrisch geladenen Spottreden platzt; man sitzt besser da und hält still, man wird nicht lange warten müssen; die Verhandlungen sind gescheitert. Chamberlain ist auf der Flucht, er ruft dabei: Frieden für unsere Zeit. Frankreich sagt sich eifrig von der Prager Regierung los. Motorisierte Kolonnen rollen ins verschneite Pilsen ein und rollen weiter. Italien sieht sich schon den Lohn eines Abenteurertums einstreichen, vor dem es sich lieber retten würde, aber ganz im Banne des Telefons schlafwandelt es geradewegs auf den Balkon und erklärt: Wir können von unserem politischen Kurs nicht abweichen. Wir sind keine Dirnen.
3 Der ewig wache Schlafwandler in Berlin und der bald schon übertölpelte Realist im Kreml schließen den Ehebund. Das wird wie eine Bombe einschlagen!, lacht der Schlafwandler.
4 In ganz Europa beginnen die Telefone zu läuten.
    Im runden Saal mit dem fächerförmigen Oberlicht und den griechischen Göttern hinter dem Podium sitzen die österreichischen Abgeordneten stocksteif an ihren hölzernen Schreibtischen mit den rechteckigen schwarzen Intarsien, die alles eleganter wirken lassen; sie waren die ersten, die sich mit unserer Zukunft abfinden mussten; ihr Telefon läutete schon 1938. Bulgarien, dem England die Kredite verweigert hatte,
die es sowieso nicht gerettet hätten, nimmt die fünfundvierzig Millionen Reichsmark des Schlafwandlers an. Der Realist gewährt niemandem Kredit, nur dem Schlafwandler. Rumänien mischt Ikonen wie Spielkarten und hofft, dass man es übersieht. Jugoslawien schwatzt Deutschland Flugzeuge und Frankreich Geld ab. In Warschaus feuchten Schatten macht sich schon ein Hauch von Panik breit. Die Drähte erzittern: Fanatische Entschlossenheit … zu allem bereit.
    Dem Telefon zufolge (denn vielleicht habe ich doch einmal mitgehört, ich Verräter!) ist die Schaltstelle Europa gar kein Nest aus Nationen, sondern offenes Gelände aus schwarzen Ikonen und Uhren mit Goldrand, dessen zufällige, ewig angefochtene Gebietsgrenzen (im Wesentlichen alte Schutzwälle aus der Römerzeit) ganz nach unseren Wünschen übermalt werden können; Gauleiter und Kommissare kochen sie zu grau gepunkteten Linien herunter, für Polizeikräfte angenehm durchlässig. Nun ist es an der Zeit, den Blick über all die rotgerillten Dachwellen schweifen zu lassen, über all die Turminseln mit ihrer grünen Patina, die sich über den weißen Fassaden mit den grinsenden Fenstern erheben und unter uns in noch nicht vollständig telefonverdrahtete Riffe abfallen; nun ist es an der Zeit, sich der anemonengleichen Sonnenschirme vor den Kaffeehäusern der Schaltstelle Europa zu erfreuen, der alten Dächer, schwarz wie Seetang vom Ruß, des klappernden Hufschlags und anschwellender Glockenklänge, der Schatten ihrer Einwohner unten ganz tief in den engen Gassen. Nun ist es an der Zeit, denn morgen schon wird alles, wie das Telefon verkündet, ohne Vorwarnung ausradiert, dem Erdboden gleichgemacht, eingedeutscht, sowjetisiert , völlig zerschmettert werden müssen. Das ist ein Befehl. Das ist eine Notwendigkeit. Wir werden nicht kämpfen wie diese verweichlichten Feiglinge, die sich von ihrem Gewissen im Zaum halten lassen; wir werden die Schaltstelle Europa beseitigen! Aber für Verhandlungen ist es noch nicht zu spät. Wenn Sie unsere sämtlichen Forderungen binnen vierundzwanzig Stunden erfüllen, werden wir Sie mit Ländereien in den grenzenlosen Weiten des Ostens entschädigen.
    In Mecklenburg haben wir eine Vorführung des ersten raketengetriebenen Flugzeugs der Welt abgehalten. Um die Verzückung des Schlafwandlers nicht zu stören, verspricht Göring, wie der
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