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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy
Autoren: David Graeber
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ganz zu schweigen von der schier überwältigenden Kollektion privater Sicherheits- und Nachrichtenagenturen, militarisierter Polizeikräfte, Leibgarden und Söldner. Dann sind da noch die Propagandaorgane zur Feier der Polizei – darunter eine gigantische Medienindustrie, die es vor den Sechzigern überhaupt noch nicht gab. Die meisten dieser Systeme greifen Dissidenten weniger direkt an, als dass sie zu einem alles durchdringenden Klima der Angst, chauvinistischer Konformität, existenzieller Unsicherheit und schierer Verzweiflung beitragen, die einem jeden Gedanken an eine Veränderung der Welt als müßiges Luftschloss erscheinen lässt. Aber sie sind auch extrem teuer. Den Schätzungen einiger Ökonomen nach ist heute ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung mit »Wachdiensten« der einen oder anderen Art beschäftigt – sei es beim Objektschutz, bei der Überwachung von Arbeit oder anderen Maßnahmen, mit denen sie dafür sorgen, dass ihreMitbürger spuren. 4 Wirtschaftlich gesehen ist dieser Disziplinarapparat nichts als Ballast.
    Bei genauer Betrachtung ergeben alle wirtschaftlichen Neuerungen der letzten dreißig Jahre eher politisch als wirtschaftlich Sinn. Die Abschaffung der (teils lebenslangen) Festanstellung zugunsten prekärer Arbeitsverhältnisse schafft nicht etwa eine kreativere Arbeiterschaft, sie ist aber außerordentlich effektiv dabei, die Gewerkschaften zu zerstören und die Arbeitnehmer anderweitig zu entpolitisieren. Dasselbe lässt sich über die endlos zunehmenden Arbeitsstunden sagen. Kaum einem bleibt bei 60-Stunden-Wochen viel Zeit für politische Betätigung. Wenn es im Kern darum geht, den Kapitalismus als die einzig mögliche Wirtschaftsform erscheinen zu lassen oder ihn tatsächlich zu einer halbwegs brauchbaren Wirtschaftsform zu machen, entscheidet sich der Neoliberalismus, so hat man immer wieder den Eindruck, automatisch für den Anschein der vermeintlichen Alternativlosigkeit. Und das resultiert in einer gnadenlosen Kampagne gegen die menschliche Fantasie.
    Oder, um es präziser zu formulieren: Fantasie, Sehnsüchte, individuelle Befreiung, all das, was durch die letzten großen Weltrevolutionen befreit werden sollte, soll streng auf die Domäne des Konsumismus beschränkt bleiben, oder vielleicht auch auf die virtuelle Realität des World Wide Web. Aus allen anderen Bereichen gehören sie strengstens verbannt. Ich spreche hier vom Mord an Träumen. Ich spreche hier von einem Apparat der Hoffnungslosigkeit, der darauf abzielt, jedes Gespür für eine alternative Zukunft im Keim zu ersticken. Aber als Folge davon, alles auf diese politische Karte zu setzen, sehen wir uns in der bizarren Situation, das kapitalistische System vor unseren Augen zerbröckeln zu sehen – und das in genau dem Augenblick, in dem endlich alle zu dem Schluss gekommen sind, es gebe keine praktikable Alternative.
    Stellt man diese Weisheit infrage, dann wird einem gemeinhin ein detaillierter Plan zur Funktionsweise eines alternativen Systems abverlangt – bis hin zu den Finanzinstrumenten, der Energiepolitik und dem Abwassermanagement. Und dann folgt vermutlich die Frage nach einem nicht weniger detaillierten Programm für die Implementierung des neuen Systems. Aus historischer Perspektive ist das lächerlich. Wann sind gesellschaftliche Veränderungen je nach einem Plan zustande gekommen? Es war doch nicht so, dass sich im Florenz der Renaissance ein kleiner Kreis von Visionären zusammengesetzt und etwas erfunden hätte, was sie »Kapitalismus« nannten – mitsamt allen Einzelheiten wie einer künftigen Börse oder einer Fabrik. Zu schweigen von einem Programm, wie man das alles umsetzen soll. Der Gedanke ist so absurd, dass wir uns fragen sollten, wieso wir überhaupt je darauf gekommen sind, dies sei die Art, wie gesellschaftliche Veränderungen im Allgemeinen entstehen.
    Ich persönlich habe den Verdacht, es handelt sich hier um ein Überbleibsel von Ideen der Aufklärung, die überall, außer in Amerika, längst verblasst sind. Das 18. Jahrhundert hatte eine Schwäche für die Vorstellung, große Gesetzgeber wie Lykurg oder Solon hätten Nationen, ganz nach dem Vorbild von Gottes Schöpfungsakt, aus dem Nichts gegründet und seien dann (wie Gott) zurückgetreten, um den Dingen ihren Lauf zu lassen. Und dass der »Geist der Gesetze« dann allmählich den Charakter einer Nation bestimmen würde. Es war dies eine eigenartige Fantasie, aber die Autoren der amerikanischen Verfassung glaubten nun
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