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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy
Autoren: David Graeber
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notwendigerweise bessere Menschen. Ja, ich denke, jedenüchterne Einschätzung der Weltlage müsste zu dem Schluss kommen, dass wir nicht
mehr
Arbeit brauchen, sondern
weniger
. Und das stimmt bereits, ohne dass wir ökologische Bedenken mit einbeziehen, also den Umstand, dass das gegenwärtige Tempo der globalen Arbeitsmaschine den Planeten zusehends unbewohnbar macht.
    Warum lässt sich diese Vorstellung so schwer infrage stellen? Ich vermute, dass hier zum Teil die Geschichte der Arbeiterbewegungen dahintersteckt. Es ist eine der großen Ironien des 20. Jahrhunderts, dass jedes Quäntchen mehr an politischer Macht für eine politisch mobilisierte Arbeiterklasse unter der Führung bürokratischer Kader errungen wurde, die ebendiesem produktivistischen Ethos huldigten, das das Gros der eigentlichen Arbeiter mitnichten teilte. 5 Es ließe sich auch als »produktivistischer Deal« bezeichnen: Wer sich dem alten puritanischen Ethos fügt, dass Arbeit eine Tugend sei, wird mit dem Eingang ins Paradies der Konsumenten belohnt. In den frühen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts war das der wesentliche Unterschied zwischen anarchistischen und sozialistischen Gewerkschaften. Deshalb neigten Letztere dazu, höhere Löhne zu fordern, erstere eine kürzere Arbeitszeit (weshalb anarchistische Gewerkschaften letztlich auch für den Acht-Stunden-Tag verantwortlich sind). Die Sozialisten akzeptierten das von ihren bourgeoisen Feinden gebotene Konsumentenparadies, nur wollten sie das Produktionssystem selbst verwalten; die Anarchisten dagegen wollten Zeit, in der sich leben und anderen Werten huldigen ließ, von denen Kapitalisten noch nicht einmal träumen konnten.
    Ob in Spanien, Russland, China oder fast überall sonst, wo es zu Revolutionen kam, waren es die Anarchisten, die sich erhoben, in Ablehnung des produktivistischen Deals. Aber immer endeten sie unter der Verwaltung sozialistischer Bürokraten, die der Utopie des Konsumismus huldigten, auch wenn sie sie nicht annähernd haben verwirklichen können. Die Ironie daran war, dass der wesentliche soziale Fortschritt, für den die Sowjetunion und ähnliche Regime tatsächlich gesorgt haben – nämlich mehr Zeit zu haben –, genau der war, den man nicht eingestehen konnte. Dieser Fortschritt, dieser Zeitgewinn, kam ja nur dadurch zustande, dass die Arbeitsdisziplin den Bach runterging und jeder nur noch halb so viel arbeitete, wie er eigentlich sollte. »Das Problem des unentschuldigten Fernbleibens«, wie man es nannte, stand einer unmöglichen Zukunft voller Schuhe und Unterhaltungselektronik im Weg.
    Aber wenn man es richtig bedenkt, ist selbst hier der Unterschied gar nicht so groß. Auch Gewerkschafter fühlen sich bemüßigt, mit einer bourgeoisen Sprache zu operieren – einer Sprache, die Produktivität und Arbeitsdisziplin als absolute Werte hinstellt –, und so tun, als wäre die Freiheit, auf der Baustelle mal eine Pause einzulegen, kein hart erkämpftesRecht, sondern eben doch ein Problem. Zugegeben, es wäre weit besser, gleich halbtags zu arbeiten, als an einem ganzen Arbeitstag das Quantum eines halben zu erledigen, aber es ist wohl besser als nichts.
    Wer sich der Arbeitsdisziplin unterwirft, der aufgezwungen oder der qua Selbstkontrolle, ist deshalb noch lange kein besserer Mensch. Aber erst dann, wenn wir den Gedanken, dass Arbeit eine Tugend sei, tatsächlich verwerfen, können wir uns fragen, was denn eigentlich so tugendhaft an der Arbeit ist. Eine Frage mit einer eigentlich offensichtlichen Antwort: Arbeit ist eine Tugend, wenn sie anderen hilft. Eine Neudefinition von Arbeit in diesem Sinne dürfte leichter fallen, wenn wir dem Produktivismus Valet sagen. Erst dann kann es überhaupt zu einer Neuausrichtung der technologischen Entwicklung kommen, weg von immer mehr Konsumartikeln und all dem Kram, den man nicht braucht.
    Was natürlich bleiben würde, das ist Arbeit von der Art, wie sie immer nur Menschen werden erledigen können: soziale Arbeit, Pflegearbeit, Kommunikationsarbeit. Wir könnten wieder auf die Idee kommen, dass das eigentliche Geschäft des Lebens nicht darin besteht, zu einer »Wirtschaft« beizutragen (einem Konzept, das es vor hundert Jahren noch nicht einmal gab), sondern dem Umstand Rechnung zu tragen, dass wir alle seit jeher Projekte gegenseitiger Schöpfung sind.
    Kritik der Bürokratie
    Ein wirklich katastrophales Versäumnis der Mainstreamlinken ist seit jeher ihre Unfähigkeit, eine sinnvolle Kritik der Bürokratie zu
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