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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy
Autoren: David Graeber
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gerne etwas wie das Prinzip hinter dem Konsensentscheid – das den Respekt für radikale, unvereinbare Unterschiede zur Basis für Gemeinsamkeit macht – auf das gesamte gesellschaftliche Leben angewandt sehen.
    Was würde das nun wirklich bedeuten?
    Nun, zunächst einmal denke ich nicht, dass wir dann alle den lieben langen Tag im Kreis formaler Meetings herumsitzen würden. Eine solche Aussicht würde uns nicht weniger in den Wahnsinn treiben als das bestehende System. Es geht mir hier weniger um die Dauer und die Form derartiger Veranstaltungen als vielmehr um den Geist dahinter. Deshalbhabe ich immer wieder herausgestellt, dass alles als anarchistische Form der Organisation zu sehen ist, was sich nicht letztlich auf Strukturen bürokratischer Gewalt stützen muss.
    Man wirft immer wieder die Frage auf, wie direkte Demokratie sich »aufskalieren« ließe, also über das Meeting mit lauter bekannten Gesichtern hinaus zu Versammlungen auf städtischer, regionaler oder gar nationaler Ebene. Selbstredend werden sie nicht dieselbe Form annehmen. Aber Möglichkeiten gibt es da viele. Kaum eine Option, die irgendwann einmal ausprobiert wurde, ist tatsächlich verloren gegangen, 7 ganz zu schweigen von all den technologischen Möglichkeiten, die ständig hinzukommen. Bislang hat man vor allem mit abberufbaren Delegierten experimentiert, aber ganz persönlich denke ich, dass die von mir angesprochenen Lotterieverfahren durchaus ein noch unerforschtes Potenzial haben. Es bräuchte eine Möglichkeit, Spinner auszusortieren, sicher, aber letztlich sollte jedem bei der Mitbestimmung großer Entscheidungen dieselbe Chance offenstehen, sofern er teilnehmen will. Selbstredend müsste es auch Mechanismen geben, um Missbrauch auszuschalten. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass der wirklich schlimmer sein könnte als in unserem derzeitigen Auswahlsystem.
    In ökonomischer Hinsicht würde ich mir eine Art Garantie für existenzielle Sicherheit wünschen, die es einem gestattet, Ziele zu verfolgen, die einem – einzeln oder kollektiv – tatsächlich erstrebenswert sind. Das ist ja ohnehin der Hauptgrund dafür, dass die Menschen Geld verdienen wollen: um etwas anderes machen zu können, etwas, was ihnen als nobler erscheint, schöner, profunder oder einfach nur gut. Wonach ließe sich in einer freien Gesellschaft streben? Vermutlich nach so einigem, was wir uns jetzt kaum vorstellen können, obwohl man darunter vertraute Werte finden wird wie Spiritualität, Sport, Kunst, Fantasy-Spiele, wissenschaft liche Forschung, Landschaftsgärtnerei, intellektuelle oder hedonistische Freuden und noch ungeahnte Kombinationen von alledem.
    Die eigentliche Herausforderung wird ganz offensichtlich in der Aufteilung der Ressourcen zwischen der Beschäftigung mit Werten liegen, die an sich nicht miteinander zu vergleichen sind.
    Was mich zu einer weiteren Frage bringt: Was bedeutet denn eigentlich »Gleichheit«?
    Ich werde das gar nicht so selten gefragt. Für gewöhnlich von reichen Leuten. »Was wollen Sie denn nun eigentlich? Totale Gleichheit? Wir soll das möglich sein? Wollen Sie wirklich in einer Gesellschaft leben, in der jeder genau das Gleiche hat?« Und immer schwingt der Unterton mit, dass zu einem solchen Projekt ja wohl der KGB erforderlich wäre. Das sind die Sorgen des einen Prozent. Die Antwort lautet ganz einfach: »Ich würde gerne in einer Welt leben, in der diese Frage unsinnig wäre.«
    Hier statt einer Parabel ein Beispiel aus der Geschichte. In jüngsten Jahren sind Archäologen auf etwas gestoßen, was jedes bisherige Verständnis der Menschheitsgeschichte auf den Kopf gestellt hat. Sowohl in Mesopotamien als auch im Industal waren die Gesellschaften in den ersten tausend Jahren städtischer Zivilisation strikt egalitär. Und das geradezu obsessiv. Es findet sich nicht der geringste Hinweis auf soziale Ungleichheit: keine Ruinen von Palästen, keine aufwändigen Grabstätten. Die einzigen Monumentalbauten waren solche, die für alle da waren, zum Beispiel öffentliche Bäder. Die Häuser in den einzelnen Stadtvierteln waren nicht selten von exakt derselben Größe. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass gerade diese obsessive Gleichheit das Problem war. Wie ein Freund, der brillante britische Archäologe David Wengrow, immer gerne sagt: Die Geburt der städtischen Zivilisation folgte unmittelbar auf eine womöglich gar noch wichtigere Erfindung, die Geburt der Massenproduktion. Sie ermöglichte es zum ersten
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