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Inselkoller

Inselkoller

Titel: Inselkoller
Autoren: Reinhard Pelte
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ziemlich gut bezahlte Arbeit als Reinigungskräfte
bei der Verwaltung der Bundeswehr gefunden, die zu dieser Zeit ihre Liegenschaften
noch in eigener Regie pflegte und instand hielt. Sie waren ledig, hatten keine Kinder
zu versorgen, und die Verwandtschaft war im Osten geblieben. Bald hatten die Frauen
eine geeignete und preiswerte Wohnung gefunden. Jetzt fing das richtige Leben an.
Sie erwarben kein Auto, keine Luxusküche, keine Ledermöbel und keinen elektronischen
Schnickschnack. Stattdessen feierten sie ihr neues Leben. Die Nachbarn berichteten
von Festen mit lauter Musik und viel Lachen, von Urlaubsreisen in so exotische Länder
wie Portugal oder Spanien. Für die Frauen schien sich ihr Leben famos zu entwickeln.
    Mit der Reform von Grund auf, mit der der Verteidigungsminister
nicht nur der veränderten politischen Lage in Europa und der Welt Rechnung tragen,
sondern vor allem die Kosten dämpfen wollte, wurden die von der Bundeswehr benötigten
Dienstleistungen, wie die Pflege des Fuhrparks, der Objektschutz, die Handwerksbetriebe
und auch die Reinigung der Betriebsräume, an private Unternehmen ausgelagert. Die
Frauen wurden im Zuge einer sozialverträglichen Abwicklung von einem großen Reinigungskonzern
übernommen. Hier leisteten sie die gleiche Arbeit unter ungleich schwereren Bedingungen.
Kontingentierungen, Zeitverschreibungen und Nachtarbeit lösten Eigenverantwortung,
Kaffeepausen und Gespräche mit Kollegen und Menschen ab, denen sie die Arbeitsumgebung
verschönern und sauber zu halten halfen. Ihre Feiern wurden leiser, und schließlich
feierten sie gar nicht mehr. Die Nachbarn sahen sie nur noch selten. Die Gespräche
brachen ab. Sie arbeiteten, wenn andere schliefen, und umgekehrt.
    Einige Zeit später wurden sie im Rahmen einer
marktbedingten Restrukturierungsmaßnahme des Unternehmens für den ersten Arbeitsmarkt
freigestellt: Das heißt, man entließ sie und übergab sie in die fürsorglichen Arme
der Arbeitslosenverwaltung. Ihre Lebensgeister waren zu dieser Zeit wohl noch so
vital, dass sie das, was sie aus freien Stücken in der versunkenen DDR -Welt zurückgelassen hatten, nicht wiederhaben wollten. Und so
meldeten sie sich erst gar nicht beim Arbeitsamt.
    Nach Ausbleiben der Mietüberweisung schickte
die Hausverwaltung einen Vertreter, um die Rückstände in bar einzutreiben. Er stand
vor verschlossener Tür. Auf seine Frage nach den Mieterinnen meinten die Nachbarn,
die Frauen wären auf Reisen.
    Schließlich wurde die Wohnung unter polizeilicher
Kontrolle geöffnet. Sie wirkte, als hätten die Bewohnerinnen sie gerade für einen
Kinobesuch verlassen.
    Die anschließenden Ermittlungen zum Verbleib
der beiden Frauen blieben so ergebnislos, als hätte es sie nie gegeben. Anfragen
bei Bahn, Busunternehmen, Fluggesellschaften, Reisebüros, Volkshochschulen und so
weiter und so fort gingen alle ins Leere. Fahndungsaufrufe in den Medien blieben
ohne greifbares Ergebnis. Ein Auto oder Kreditkarten, über deren Gebrauch Spuren
hätten aufgenommen werden können, besaßen sie nicht.
    Schließlich landeten die Akten auf Jungs Schreibtisch.
Er überprüfte jedes Detail, durchforstete akribisch die Nachbarschaft und die Verwandtschaft
im Osten, bemühte sich, Augenzeugen aus den letzten Tagen vor ihrem Verschwinden
zu ermitteln: alles vergeblich. Es schien ihm, als besuchten die Frauen eine Filmvorführung,
deren Abspann auf sich warten ließ. Sie saßen im Dunkeln, ohne sich zu rühren, und
keiner sah sie.
    Jungs Arbeit hatte den Ermittlungsergebnissen
seiner Kollegen nichts Wesentliches hinzufügen können; hier und da eine Präzision
oder ein unbedeutendes Detail, das eine oder andere Mosaiksteinchen. Aber er hatte
den Vorteil, nicht unter Zeitdruck zu stehen, nicht den bohrenden Fragen seiner
Vorgesetzten nach Fortschritten ausgesetzt zu sein. So konnte er die Fakten und
Eindrücke, solange er wollte, in seinem Kopf bewegen und seinen Gefühlen und Intuitionen
nachgehen.
    Dabei entwickelte sich in ihm langsam die Vorstellung,
dass er nach Menschen suchte, die ihr Leben nicht mehr gemocht hatten. Sie hatten
es einfach verlassen, nicht, um in den Tod zu gehen, sondern in der Hoffnung, irgendwo
ein neues zu finden. Sie hatten schon bei ihrem Neuanfang im Westen bewiesen, dass
ihnen hierfür Mut, Kreativität und Einfallsreichtum zur Verfügung standen.
    Je stärker sich bei Jung diese Vorstellung
verdichtete, desto schwächer wurde sein Ehrgeiz, die Fälle lösen zu wollen. Das
fiel ihm umso
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