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Inselkoller

Inselkoller

Titel: Inselkoller
Autoren: Reinhard Pelte
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mehr in Wut. Er ereiferte sich und erging sich in langen Tiraden über
die Sinnlosigkeit der angetroffenen Praxis. Je absurder er seine Arbeitswelt wahrnahm,
umso wütender verteidigte er seine Vorstellungen von richtiger Arbeit. Etwas anderes
wäre ihm wie Verrat an seiner Sache vorgekommen.
    Jungs Überzeugungsarbeit blieb erfolg- und
folgenlos. Schließlich fühlte er sich wie in Watte gepackt. Seinen Kollegen und
seinem Chef ging er auf die Nerven, aber nichts passierte. Das machte ihn noch wütender.
Er sann auf Abhilfe. Das Letzte, was ihm einfiel, war, nicht mitzumachen, zu verweigern,
der Dienst nach Vorschrift, was im Grunde auf versteckte Sabotage hinauslief.
    So verbrachte er seine Jahre. Sein Gehalt ging
jeden Monat pünktlich auf seinem Konto ein. Er baute ein Haus, seine Kinder wurden
größer, seine Frau machte sich selbstständig. Er empfand seine Arbeitswelt und seine
Kollegen als unzumutbar, und umgekehrt galt wohl das Gleiche, wie er nur vermuten
konnte, denn keiner sagte ihm ins Gesicht, was er von ihm hielt. Seine Wut wuchs,
und er begann, sich selbst und seine Umgebung zu verachten.
    So war die Situation, als sein Chef auf die
Idee kam, ihn zum Leiter eines neu zu schaffenden Sonderdezernats für unaufgeklärte
Kapitalverbrechen zu machen. Hier leitete er sich selbst. Außer ihm gehörte dem
Dezernat kein weiterer Beamter an. Brauchte er Unterstützung, so stand ihm frei,
bei anderen Abteilungen darum zu bitten.
    Jung zog nun in ein eigenes Büro um und hatte
Zeit nachzudenken. Ihm wurde langsam und nur widerwillig klar, dass er gescheitert
war; dass er keinen Weg gefunden hatte, auch nur den kleinsten Schritt in Richtung
seiner Ziele zu tun. Ihm wurde unter entsetzlichen seelischen Schmerzen bewusst,
dass seine Art, sich zu bewegen, sich zu äußern, mit seinen Kollegen, Chefs und
Mitarbeitern umzugehen, dazu angetan war, seine eigenen Ziele zu sabotieren. Er
selbst war das erste Problem und dann die anderen, die Umstände, die Bürokratie,
und wer weiß noch was. Diese Erkenntnis zerschmetterte sein Selbstbewusstsein gänzlich.
Er begriff, dass das Ausmaß seiner Wut seinen Verstand verzehrt hatte, wie ein Waldbrand
Bäume verzehrt, und er begann, seine Wut zu fürchten.
     
    Mit den Jahren aber begriff Jung seine neue Stellung als Wendepunkt,
und er dankte seinem Chef insgeheim jeden Tag aufs Neue für die Versetzung auf seinen
jetzigen Posten: Er verschaffte ihm Erholung und gab ihm Gelegenheit, sich zu sammeln.
Die billige, schäbige Zweckmöblierung seiner Amtsstube (und aller anderen auch),
gegen die er früher grob polemisiert hatte (Luxusasyl für bezahlte Gehirnamputierte),
regte ihn nicht mehr auf. Er konnte sich allmählich besser auf seine Arbeit konzentrieren.
Jung bemerkte, dass sein Widerwille gegen die alltäglichen Polizeiarbeiten schwand,
die er in der Vergangenheit verabscheut hatte. Je besser es ihm gelang, seine Wut
zu spüren und unter Kontrolle zu halten, desto mehr wuchs der Spaß an der Arbeit.
    Er nahm nun auch an Kollegen Fähigkeiten wahr,
die ihm vorher verborgen geblieben waren. So hatte er den Bürovorsteher des Leitenden
Kriminaldirektors in die Schublade des intriganten, servilen Liebedieners und Karrieristen
gesteckt. Jetzt fand er heraus, dass ihn Verschwiegenheit, Loyalität und ein sicheres
Gespür dafür, was die Beamten angeht und was nicht, auszeichneten. Jung hätte ein
Dutzend ähnlicher Beispiele aufzählen können.
    In den letzten Jahren hatte sich nichts verändert.
Jung freute sich darüber, und gleichzeitig schmerzte es ihn. Er war auch nicht verärgert,
als sein Chef ihn an einem freien Wochenende anrief und ihn auf die Übernahme eines
neuen Falles vorbereitete: Am Telefon wolle er aber auf Einzelheiten nicht weiter
eingehen. Schon der Zeitpunkt des Anrufes war ungewöhnlich. Und der ausdrückliche
Hinweis des Leitenden auf Arbeitsbeginn am Montag – wann denn sonst? – weckte Jungs
Interesse und ließ ihn auf eine besondere Arbeit hoffen.
     
    Jung betrat sein Büro im ersten Stock. Die fünf dicken Aktenordner
auf seinem Schreibtisch waren nicht zu übersehen. Er öffnete das Fenster zu der
in der Morgensonne glitzernden Förde, um den Wochenendmief hinauszulassen. Er machte
es sich auf seinem Bürostuhl so gut es ging bequem. Noch bevor er den ersten Satz
des zusammenfassenden Berichtes gelesen hatte, hörte er den unverkennbaren Stakkatoschritt
seines Chefs im Gang vor seinem Büro. Es hätte zu Holtgreve gepasst, wenn er seine
Schuhe mit
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