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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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einer Stimme, die ihm nicht recht gehorchen wollte. »Bist du dabei?«
    Ich nickte grinsend. Ein lustiges Abenteuer mit meinem Dad lockte mich immer.
    »Okay«, begann er. »Ich möchte, dass du ganz vorsichtig aus dem Kajak kletterst und auf der Sandbank stehen bleibst. Meinst du, du kannst das?«
    Natürlich konnte ich das! Ich war entzückt, dass mein Vater mir so etwas Wichtiges zutraute. Außerhalb des Ufers hatte er mich bislang noch nie aus dem Boot aussteigen lassen. Ich glitt von meinem Sitz, sprang auf die Sandbank und wackelte in meinen Sandalen fröhlich mit den Zehen.
    Dann tat mein Vater etwas sehr Seltsames. Er stieg gleichfalls aus, kippte den Kajak um und stieß ihn auf das Wasser hinaus. Dann warf er seinen Hut und seine Brieftasche hinterher. Ich sah zu, wie beides von der Strömung davongetragen wurde.
    »Wir fahren hiermit weiter.« Er deutete auf das Fischerboot. »Schau mal, da sind ein paar Sachen für dich drin.«
    Ich watete zu dem Boot und spähte hinein. Zwei Rucksäcke, ein Hut, eine Jacke, eine Angel und eine Decke waren im Bug verstaut.
    »Steig ein«, wies mich Noah an. »Das ist die Überraschung, die ich dir versprochen habe. Wir gehen auf eine Abenteuerreise, nur du und ich! Jetzt möchte ich, dass du in das Boot kletterst, unter die Decke kriechst und dort bleibst, bis ich sage, dass du herauskommen kannst. Du sollst dich verstecken. Es ist ein Spiel. Schaffst du das?«
    Aber sicher! Schließlich versteckte ich mich andauernd unter Decken. Also tat ich, vor Vorfreude zitternd, wie mir geheißen, und fragte mich, was wohl als Nächstes kommen würde.
    Mein Vater machte das Boot los und ließ den Motor an. Während es langsam lostuckerte, setzte er den Hut – einen Fischerhut mit breiter Krempe – auf und zog die alte Jacke an, die Mira für ihn bereitgelegt hatte. Dann griff er nach der Angelrute und legte sie über den Seitenrand des Bootes. Jeder, der uns vom Ufer aus beobachtete, sah nun einen einsamen Fischer statt eines Vaters mit seiner Tochter auf dem Wasser.
    Es war geschafft. Wir waren tot oder würden es in einigen Stunden sein, wenn Madlyn sich wegen unseres langen Ausbleibens Sorgen zu machen begann. Noah stellte sich die verzweifelte Suchaktion vor: die entsetzten Rufe, wenn der Kajak gefunden wurde, die Trauerfeier für Vater und Tochter. Doch er verdrängte diese trüben Gedanken entschlossen und konzentrierte sich auf seine nächsten Schritte. Er musste nun eine abgelegene Stelle suchen, wo er das Boot versenken konnte, dann ein Taxi auftreiben und mit mir zum Flughafen fahren. Thomas James war froh, dass seine Tochter so gehorsam unter die Decke gekrochen war. So konnte sie die Tränen nicht sehen, die in seinen Augen schimmerten, als er das Boot auf das gegenüberliegende Ufer zusteuerte.
    Die Vision verschwamm. Im nächsten Moment hörte ich allerdings ein Baby weinen und wusste, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war. Ich sah Mira mit einem Säugling auf dem Arm. War es von meinem Vater? Einen Moment lang starrte ich das Bild vor mir verdutzt an, dann löste es sich in Luft auf. Was wusste ich denn noch alles nicht von Mira?! Sie hatte mir nicht einmal gesagt, dass sie ein Kind hatte. Ob es am Leben geblieben war? Hatte ich vielleicht einen Bruder oder eine Schwester? Hatte mein Dad davon gewusst?
    Ich schüttelte den Kopf, um die verblassende Szene endgültig zu vertreiben, und wurde mir auf einmal meiner Umgebung wieder bewusst. Iris saß noch immer neben mir auf der Bank. Mir fiel auf, wie erschöpft sie wirkte, so als hätte es sie ihre letzte Kraft gekostet, diese Bilder heraufzubeschwören.
    Ich registrierte gleichfalls, dass das strahlende Novemberwetter umgeschlagen war, wie es hier so oft der Fall war. Wolken ballten sich über uns zusammen, der Wind hatte gedreht und der Horizont sich bedrohlich verdunkelt. Ein Sturm braute sich zusammen. Es war Zeit, ins Haus zu gehen.
    »Iris?« Ich nahm ihre kalte Hand in die meine. »Ich werde Ihnen ins Haus helfen.«
    Doch Iris schüttelte den Kopf. »Meine Arbeit hier ist für heute getan.« Sie machte Anstalten, mühsam aufzustehen, doch da fiel mir ein, dass ich unbedingt noch eines von ihr wissen wollte.
    »Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen, bevor Sie gehen?« Ich hielt sie sanft am Arm fest.
    »Was denn, Kind?« Sie war wirklich zu Tode erschöpft, das sah ich ihr an.
    »Iris, mein Vater hat mich fortgebracht, um mich vor den Mädchen zu schützen«, begann ich hastig. »Unglücklicherweise
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