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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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von der Aufnahme entgegenrief: »Hilf mir, Daddy!« Das gab den Ausschlag. Er versuchte ein letztes Mal, seine Frau zu überzeugen.
    »Siehst du denn nicht, dass sie in Gefahr schwebt, Madlyn? Siehst du das nicht?«
    Aber sie war so blind wie ich während meiner ersten Lebensjahre.
    Dann war die Zeit gekommen, den Plan in die Tat umzusetzen. Mitten in der Nacht vertäute Mira ein Fischerboot, in dem sie ein paar Sachen zum Wechseln und einige Vorräte verstaut hatte. Am nächsten Tag paddelte Noah Crane, nachdem er meine Mutter zum Abschied geküsst hatte, seinen Kajak zur Nordseite der Insel hinüber.
    Ich saß ganz still auf dem vorderen Sitz. Obwohl ich noch sehr jung war, wusste ich doch schon, wie wichtig es war, in der Mitte des Kajaks das Gleichgewicht zu halten, um das Boot nicht zum Kentern zu bringen.
    Noah wusste, dass wir nur noch Minuten von unserem vermeintlichen Tod entfernt waren. Einem Tod, den er sorgfältig geplant hatte. Er hielt auf einen abgelegenen Teil von Grand Manitou zu, der vom Ufer aus nicht einsehbar war und selten besucht wurde.
    Seinen eigenen Tod zu inszenieren, schien eine heikle Angelegenheit zu sein. Das ruhige Wetter hatte viele Menschen auf das Wasser hinausgelockt. Es war schwierig, eine einsame Stelle zu finden. Nervös suchte mein Vater den Horizont ab. Wenn andere Menschen in der Nähe waren – Kajakfahrer, Segler oder sogar Schwimmer – würde er seinen Plan aufgeben und es an einem anderen Tag versuchen müssen.
    Das Gesicht meines Dads war ernst und entschlossen. Er war seinem Ziel so nah! Doch endlich: So weit er sehen konnte, waren wir tatsächlich allein auf dem Wasser. Er begann zu paddeln, als ginge es um sein Leben, was ja in gewisser Weise auch der Fall war. Seine Arme fingen an zu schmerzen, seine Kraft ließ nach. Aber er durfte jetzt nicht aufgeben, musste durchziehen, was er sich vorgenommen hatte, denn wenn Madlyn nicht vollständig von unserem Tod überzeugt wäre, würde sie uns mit Sicherheit suchen lassen und mich auf die Insel zurückbringen. Und ihn selbst erwartete dann das Gefängnis.
    Aber Noah machte sich an diesem Tag keine Gedanken über ein mögliches Scheitern seines Vorhabens. Er war ein kühl kalkulierender Mann, und er hatte jede Eventualität bedacht. Es würde nichts schiefgehen.
    Das Bild vor meinem inneren Auge wandelte sich, und ich sah nun, wie mein Dad immer wieder bestimmte Geldbeträge von seinem Konto abhob. Natürlich keine zu hohen Summen, damit es nicht auffiel, aber es kam doch einiges zusammen. Er war auch schon zum Festland hinübergefahren, um unter seinem neuen Namen Thomas James ein Konto zu eröffnen, auf das er inzwischen einen fast sechsstelligen Betrag eingezahlt hatte. Zusätzlich hatte er sich einige tausend Dollar in bar in seine Jacke gestopft. Kein Vermögen, aber genug, um uns den Start in ein neues Leben zu ermöglichen.
    Ich sah es ihm an, dass ihn die Ungeheuerlichkeit dessen, was er tat, zu überwältigen drohte. Sein Vorhaben war illegal, ganz zu schweigen davon, dass es eine Grausamkeit ohnegleichen darstellte, einer Mutter ihr Kind zu entreißen. Er liebte Madlyn noch immer und wusste auch, dass sich daran nie etwas ändern würde. Aber die Sicherheit seiner Tochter hatte für ihn Vorrang. Das redete er sich so lange ein, bis er es fast selbst glaubte.
    Ich sah, wie mein Dad an jenem Tag über all diese Dinge nachdachte, während er den Kajak unter eine mächtige bogenförmige Felsformation steuerte, die als der Ring bekannt war. Legenden zufolge bildete er das Tor zur Geisterwelt. Für uns würde er das Tor zur Freiheit sein.
    Aufgrund meines Traumas sollte ich zwei Jahre lang kein einziges Wort sprechen. Also starrte ich während der Fahrt nur stumm zum Ufer zurück. Dann wandte ich mich mit furchterfüllten Augen meinem Vater zu, der nicht ahnte, dass ich gerade Hannahs Töchter, die mit vor Wut verzerrten Gesichtern am Wasserrand standen, ebenfalls sah. Er machte Anstalten, etwas zu mir zu sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Gott sei Dank bringe ich meine Tochter endlich von diesem teuflischen Ort fort, dachte er stattdessen.
    Noah passierte den Ring und fand dort, was vereinbarungsgemäß auf ihn warten sollte: Ein vollgetanktes Fischerboot war an einem Felsen auf einer Sandbank festgemacht. Mira hatte Wort gehalten. Er paddelte langsamer, bis sich der Rumpf des Kajaks knirschend in den weichen Untergrund bohrte.
    »Hallie, heute unternehmen wir etwas ganz Lustiges«, sagte er mit
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