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Unser Spiel

Unser Spiel

Titel: Unser Spiel
Autoren: Carre
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    Larrys Verschwinden fiel offiziell zum erstenmal am zweiten Montag des Oktober auf, um zehn nach elf, als er nicht zu seiner Eröffnungsvorlesung des neuen Studienjahres erschien.
    Ich kann den Schauplatz der Handlung exakt beschreiben, denn vor noch gar nicht langer Zeit habe ich Larry bei dem gleichen trübseligen Wetter nach Bath gelockt und mit diesem erbärmlichen Ort bekanntgemacht. Noch heute erinnere ich mich mit äußerst schlechtem Gewissen an die scheußlichen Plattenbauten, die ihn einschlossen wie die Mauern einer neuen Zelle. Und ich erinnere mich an seinen noch immer jugendlichen Rücken, als Larry sich vorwurfsvoll von mir abwandte und in der Betonschlucht verschwand wie ein Mann, der seinem Schicksal entgegengeht. Ich starrte ihm nach und dachte, hätte ich einen Sohn, dann wüßte ich jetzt, wie man sich fühlt, wenn man ihn zum erstenmal im Internat abliefert.
    »He, Timbo«, flüstert er über die Schulter, wie nur Larry aus weiter Ferne zu einem sprechen kann.
    »Ja, Larry.«
    »Das ist es also, ja?«
    »Was denn?«
    »Die Zukunft. Wo alles aufhört. Der Rest des Lebens.«
    »Es ist ein neuer Anfang«, sage ich loyal.
    Aber wem gegenüber loyal? Ihm? Mir? Der Firma?
    »Wir müssen bescheidener werden«, sage ich. »Wir beide.«
    Der Tag seines Verschwindens muß allen Berichten zufolge genauso deprimierend gewesen sein. Ein widerwärtiger Nebel umhüllt den abscheulich grauen Campus der Universität und haucht einen dunstigen Schleier auf die stahlgerahmten Fenster von Larrys schmutzigem Hörsaal. Zwanzig Studenten sitzen an Pulten vor dem leeren Katheder, das aus dem besonders grellen gelben Holz der Pechkiefer gefertigt und mit Schrammen übersät ist. Das Thema seiner Vorlesung steht bereits mit Kreide an die Tafel geschrieben, von unbekannter Hand, vermutlich der eines vernarrten Schülers. »Karl Marx im Supermarkt: Revolution und moderner Materialismus«. Man hört vereinzeltes Lachen. Studenten sind überall gleich. Am ersten Tag des Semesters lachen sie über alles. Aber allmählich werden sie still und begnügen sich damit, einander anzugrinsen, nach der Tür zu sehen und auf Larrys Schritte zu horchen. Bis sie, nachdem sie ihm die volle Frist von zehn Minuten gewährt haben, verunsichert ihre Bleistifte und Notizhefte zusammenpacken und über den schwankenden Beton zur Mensa poltern.
    Die Erstsemester empören sich beim Kaffee gehörig über diese erste Erfahrung mit Larrys Unberechenbarkeit. So etwas haben wir in der Schule nie erlebt! Wie sollen wir das aufholen? Wird man uns benachrichtigen? 0 Gott! Aber die Abgebrühten, Larrys Fans, lachen nur. Typisch Larry, erklären sie selig: Das nächstemal wird er drei Stunden lang quatschen, und ihr werdet so fasziniert sein, daß ihr das Mittagessen vergeßt. Sie spekulieren darüber, was ihn verhindert haben könnte: ein gewaltiger Kater oder eine der haarsträubenden Liebesaffären, von denen sie ihm jede Menge zutrauen, denn mit Mitte Vierzig ist Larry noch durchaus ansehnlich und besitzt den hilflosen Charme eines Dichters, der nie erwachsen geworden ist.
    Die Universitätsleitung sah Larrys Fernbleiben ähnlich gelassen. Einige Kollegen hatten, nicht alle aus den freundlichsten Motiven, den Verstoß binnen einer Stunde gemeldet. Gleichwohl wartete die Verwaltung den nächsten Montag und das nächste Nichterscheinen ab, ehe jemand die Energie aufbrachte, seine Vermieterin anzurufen und, als diese keine befriedigende Auskunft geben konnte, die Polizei von Bath. Erst nach weiteren sechs Tagen kam die Polizei zu mir: an einem Sonntag, Sie werden es kaum glauben, um zehn Uhr abends. Hinter mir lag ein anstrengender Nachmittag, an dem ich eine Busladung unserer Dorfsenioren auf einen Ausflug nach Longleat begleitet hatte, und ein frustrierender Abend in der Weinkellerei, wo ich mit einer deutschen Traubenpresse zu kämpfen hatte, die mein verstorbener Onkel Bob »Eingeschnappter Hunne« getauft hatte. Dennoch, als ich das Klingeln hörte, machte mein Herz einen Sprung, während ich mir einzureden versuchte, daß es Larry sei, der mit seinen anklagenden braunen Augen und dem vertrauensvollen Lächeln bei mir vor der Tür stünde: »Los, Timbo, mach uns einen großen Scotch, und überhaupt, wer macht sich schon was aus Frauen?«
    * **
    Zwei Männer.
    Es goß in Strömen, deshalb drängten sie sich, während sie warteten, daß ich aufmachte, unter dem Vordach. Zivilbeamte von der bewußt erkennbaren Sorte. Den Wagen hatten sie in meiner
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