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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus
Autoren: Luca Di Fulvio
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Stopfnadel, und fädelte das Garn ein, eine Paketschnur aus Hanf.
    »Eins … zwei … drei … vier … fünf … sechs … sieben … acht … und neun«, betete er herunter wie einen Rosenkranz. Als setze sich die Welt nur aus diesen neun Zahlen zusammen. Als könne er nicht erwachsen werden.
    Vielleicht hatte er jetzt ein neues Spiel gefunden.
    Er stemmte sich auf die Motorhaube hoch und kniete sich mit Nadel und Faden in einer Hand vor dem fetten Mann hin.
    Nähen war eigentlich Frauensache. Aber ihm hatte man ja mehrere Dinge beigebracht, die sonst nur Frauen taten.
    Der Junge nahm die Unterlippe des fetten Mannes zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand und stülpte sie mit festem Griff nach außen. Dann stach er von unten mit der Nadel in die Lippe, durchbohrte sie etwa in der Mitte und drückte sie nach oben, bis auch das dicke Nadelöhr hindurch war. Die Paketschnur färbte sich rot.
    Die Erwachsenen hatten ihm beigebracht, Frauendinge zu tun, deshalb schämte er sich auch nicht dafür, zu nähen wie eine Frau, wie es vermutlich ein anderer Junge in seinem Alter getan hätte.
    Der Junge nahm die Oberlippe des fetten Mannes zwischen Daumen und Zeigefinger, durchbohrte das Fleisch wieder mit der Nadel und beobachtete, wie die Schnur sich noch stärker rötete.
    Er verknotete beide Enden doppelt und schnitt den überstehenden Rest ab.
    Am liebsten wäre er in lautes Gelächter ausgebrochen. Das Gesicht des fetten Mannes sah wirklich zu komisch aus.
    Dann durchbohrte er die Lippen ein wenig weiter rechts, knotete sie ebenfalls zusammen und wiederholte das Gleiche weiter links.
    In der Ferne füllte sich die Geisterstadt mit Seufzern und Heulen.
    Nun kamen sie, um sein Spiel zu spielen.
    Der Junge lachte zufrieden. Wie ein Kind, das erst neun Jahre alt ist.
    Ein leises, sorgloses Lachen, das sich nicht um die riesigen Schatten der Nacht scherte.

II
    Er hatte ihn nach vielen Jahren wiedergefunden. Es war Zufall gewesen. Oder ein Wunder. Oder vielleicht ein grausamer Scherz des Schicksals. Oder auch alles zusammen. Und für jede dieser Möglichkeiten gab es ein anderes Motiv. Drei Gründe, drei unterschiedliche Ziele.
    Er hatte beschlossen, sich umzubringen. Ganz ohne es vorher zu planen, er wusste nicht einmal, auf welche Weise. Nur, dass es diese Nacht passieren würde, bevor die bleiche Sonne wieder über dieser Stadt aufging. Denn sie würde seine Wut und seinen Schmerz weiter anheizen und ihm damit ein trügerisches Gefühl der Erfülltheit geben. Trügerisch, weil er vor zwölf Jahren in einem Vakuum versunken war, vielleicht auch schon viel früher, in einem seiner zahlreichen Leben, die er hinter sich lassen musste. In einer von den vielen Ausgestaltungen seiner selbst, einer der allzu vielen Identitäten, in die er einmal geschlüpft war und die er verraten hatte, um sich dann jedes Mal in jemanden zu verwandeln, der ihm noch weniger gefiel.
    Er hatte also beschlossen, sich umzubringen. Und erst nachdem er ziellos durch die Stadt gelaufen war, war ihm eine Idee gekommen, wie er es tun würde. Als er sich über das Geländer gebeugt und das stehende Wasser des Hafens unter sich gesehen hatte, das nur einen tödlichen Sprung von ihm entfernt war, hatte er sich entschlossen hineinzuspringen. Er hatte seinen Sprung schon vor sich gesehen: Wind in den Haaren, und ein Körper, der sich im Fall auflöst. So leicht wie der Flug eines Schmetterlings. Und genauso kurz wie dessen Leben war sein eigenes, in dem nicht einmal genug Zeit geblieben war, sich eine Vergangenheit zu schaffen. Ein Leben, das keine Zukunft hatte. Das nur in der Gegenwart, im kurzen, intensiven Erleben des Augenblicks existierte. Ein Sprung ins Nichts wäre eine Zusammenfassung seines ganzen Lebens. Sein letztes Leben, die endgültige Verwandlung. Trunkenheit. Tod. Er spürte schon, wie sich in jener Nacht die Schwingen des Todes über ihm ausbreiteten. Kurz vor einem Morgen, der für ihn nie anbrechen sollte.
    »Willst du es tun?«, hatte plötzlich eine Stimme hinter ihm gefragt und sich in sein Schweigen gedrängt, hatte all die Klagelaute und den Lärm der Stadt gleichsam ausgelöscht. »Willst du es tun?«, hatte die Stimme beharrlich weitergefragt. Eine Stimme, die so rau und sinnlich die Stille durchdrang, dass er nicht anders konnte, als sich umzudrehen.
    Die Nutte war groß, mager, hatte schmale Hüften und lange Beine. Blond gefärbte Haare, die beinahe schon weiß wirkten. Fast so weiß wie ihre Haut. Und dann wie ein
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