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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus
Autoren: Luca Di Fulvio
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starrte unbeweglich in die Dunkelheit. Er konnte ihn nicht erkennen, doch er wusste genau, dass der Dicke ihn sehen konnte. Ganz sicher beobachtete er ihn. Dann klappte er die Scheibe vor der Uhr wieder zu und ließ sich zu Boden gleiten.
    Einen Moment lang war er versucht, sich zu jenem Ort umzudrehen, doch er wusste, dass er ihm nun schon zu nahe gekommen war. Allzu deutlich spürte er seinen heißen, klebrigen Atem, der sich wie eine zu enge Schlinge um seinen mageren Hals legte, wie ein Spinnennetz, das ihn gefangen halten, seine Handgelenke und Knöchel an einen Tisch fesseln würde, der zu hoch für ihn war, zu hoch für einen neunjährigen Jungen. Diese Kante, die sich hart und schneidend in sein Brustbein bohrte. Die über den Kopf gestreckten Arme und die festgebundenen Hände, das Blut auf seinem Gesicht und dem nackten fröstelnden Körper. Das warme Blut, das allmählich erkaltete, erstarrte, als würde es gemeinsam mit diesem Schmerz der Erniedrigung vergehen, der ihn zum Weinen gebracht hatte wie eine Frau.
    Der Junge war wie gelähmt. Es kam ihm vor, als versänken seine Füße in einem weißen, klebrigen Schlamm, und die Gesichter der Erwachsenen, der Großen, schienen noch größer und furchterregender, als erwachten sie gerade aus einem langen Schlaf und wollten ihn wieder packen, ihn wieder an diesen Ort verschleppen. Als wollte er selbst sie zu neuem Leben erwecken, obwohl er doch Angst vor ihnen hatte. Als fehlten sie ihm irgendwie. Als wäre dieses Spiel der Erwachsenen an jenem dunklen Ort, unter diesen Häusern, die nie jemand fertig gebaut, die nie jemand bewohnt hatte, alles, was er hatte.
    Der Junge wandte sich um, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug, aber er musste es tun. Weil er an diesen Ort gehörte. Weil dieser Ort in ihm war. Wie das rote Blut, das sich mit dem weißen vereinigte und auf seinem kleinen, zerbrechlichen nackten Körper erstarrte. Wie diese Angst, die manchmal gar nicht so schrecklich war, sondern sogar schön sein konnte. Er drehte sich um, weil das alles war, was er hatte. Weil in der Dunkelheit dieses Licht leuchtete. Weil man diese Sterne nur nachts sah. Er drehte sich um und spürte, wie sich der Abgrund dieses Ortes drohend öffnete, zähnefletschend, als wollte er ihn wie damals verschlingen. Und dann spürte er wieder die faulige Ausdünstung dieses Ortes, die ihn wie in einem Strudel erfasste und dorthin trieb.
    »Ich bin neun Jahre alt!«, schrie er plötzlich und rannte weg. Sprang über die Mauer aus Bordsteinen, die er so sorgsam und ordentlich aufgestapelt hatte, über den Lichtsee unter der Straßenlaterne, die sich mit ihrem bernsteinfarbenen Schein gegen den Nebel und die aufsteigende Feuchtigkeit der Nacht zu behaupten suchte. Ohne sich umzudrehen, rannte er die kleine Schotterstraße hinauf, die ganz nach oben auf den kleinen, mit Dornengestrüpp bewachsenen Hügel führte, und ließ sich dort keuchend auf die Motorhaube des Wagens sinken, wo der fette Mann immer noch auf ihn wartete, kniend, nackt und jammernd. Seine Kinderhand berührte das Knie des fetten Mannes, glitt über seine glatte, kalte, schwabbelige Haut. Er streichelte ihn mit geschlossenen Augen, wie er es beim Spiel der Erwachsenen gelernt hatte, denn manchmal schien es ihm, als könne er gar nicht anders. Manchmal bereitete es ihm sogar Vergnügen. Fühlte sich an wie ein sicherer Hafen, ein Zuhause, eine Zuflucht. Genauso, als würde man das eigene Alter an den Fingern abzählen.
    »Eins … zwei … drei … vier … fünf … sechs … sieben … acht … und neun«, murmelte er jetzt wieder vor sich hin und streckte für jedes Lebensjahr einen Finger hoch. »Eins … zwei … drei … vier … fünf … sechs … sieben … acht … und neun«, zählte er immer und immer wieder, es klang wie ein Lied, wie ein Wiegenlied, dabei lag er ausgestreckt auf der Motorhaube, die sich jetzt genauso warm anfühlte wie der Körper eines Erwachsenen.
    Als der Junge zu Atem gekommen war und merkte, dass dieser Ort wieder dorthin zurückgekehrt war, wohin er ihn vertrieben hatte, nicht sehr weit weg, jedoch tief genug in seinem Innern verborgen, dass er nicht befürchten musste, er würde ihn ausspucken, wenn er plötzlich würgen musste, so tief in seinem Kopf versteckt, dass er nicht mehr diesen bitteren, klebrigen Geschmack im Mund spürte, stand er auf, ging zur Rückseite des Wagens, wo er an der hinteren Stoßstange ein dünnes Stahlseil befestigte.
    Er nahm die Nadel, eine dicke
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