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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid
Autoren: Felix Thijssen
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Balustrade oberhalb des Wohnzimmers hinaufzog, die sich über die gesamte Breite des Hauses zu erstrecken schien.
    »Hallo?«, rief Ingrid über die gedämpfte Musik hinweg, die offenbar von der Terrasse auf der Rückseite herkam. »Hört alle mal her! Das ist Max, unser neuer Nachbar. Näher kennen lernen müsst ihr ihn selbst.«
    Ich grinste unbeholfen etwa einem Dutzend Gesichtern im Raum zu. Die Einzige, die ich wiedererkannte, war meine Nachbarin Jennifer, die in ihrem blauen Mohairpullover und einem knielangen Rock aus kupferfarbenem Samt zart und gleichzeitig sehnig wirkte. Sie lächelte mir zu und setzte ihr Gespräch mit Sigrid fort, die sich zu ihr gesellt hatte. Weitere Gäste hielten sich auf der Terrasse auf, zu der die Türen offen standen, oder saßen auf weißen Gartenstühlen um ein Partyzelt auf dem breiten Rasenstück herum, das sich bis zum Fluss erstreckte. Eine junge Frau in einer orangefarbenen Servierschürze hielt uns ein Tablett hin. Sie hatte sich tags zuvor am Schalter der örtlichen Bank als Anita vorgestellt. »Kleiner Nebenjob?«, fragte ich, als ich ein Glas Weißwein von ihrem Tablett nahm.
    »Anita und ihr Verlobter sparen für ein Baby«, sagte Ingrid. Anita errötete und trug ihr Tablett ins Gewühl hinein.
    Das Haus sah jünger aus als meines und war mindestens genauso groß. Es hatte sogar eine integrierte Garage für zwei Autos. Die Einrichtung war luxuriös: warmes, massives Holz, große Grünpflanzen und bequeme Möbel auf roten Terrakottafliesen. »Gefällt’s dir?«, fragte Ingrid.
    »Hübsch habt ihr’s hier.«
    »Aber dein Haus ist schöner.«
    »Bestimmt bist auch schon mal bei meinen Vormietern gewesen.«
    »Ein- oder zweimal, auf einer Party. Die Frau war eine blöde Ziege.« Ingrid kicherte leise. »Ach, das meinst du. Stimmt, ich hab nur so getan, als hätte ich es noch nicht gesehen. Aber wie soll man einen Mann sonst in Bewegung kriegen?« Sie schmiegte sich an mich. »Aber das Schlafzimmer kannte ich wirklich noch nicht.« Sie kniff mich in den Arm. »Von mir aus kannst du mich jeden Tag retten.«
    Ich warf besorgte Blicke um mich, sah aber keine schockierten Gesichter.
    »Ich hätte dich ertrinken lassen, wenn ich gewusst hätte, dass du verheiratet bist!«, sagte ich flüsternd.
    »Ach was.«
    »Stimmt.« Sie hatte natürlich Recht, auch was die Folgen anging. Sie waren unausweichlich gewesen.
    Wieder kicherte Ingrid. »Ich habe dich ja auch nicht gefragt, ob du verheiratet bist.«
    »Für solche Informationen sorgt doch bestimmt die Deichbuschtrommel.«
    »Nein. Die meisten Leute hier sind importiert. Es geht niemanden etwas an.« Das klang wie eine Abmachung für die Zukunft. »Und, bist du verheiratet?«, fragte sie dann.
    »Nein, ich bin ein ehrbarer Witwer.«
    Ich las die nahe liegende Frage auf ihrem Gesicht, doch sie wischte sie beiseite, drängte mich ins Wohnzimmer und überließ mich meinem Schicksal. Ich fühlte mich, wie häufiger bei solchen Gelegenheiten, wie ein verirrter Marsbewohner, während ich Hände schüttelte, Namen hörte, die ich prompt wieder vergaß und meinen Anteil am Smalltalk lieferte. Draußen auf der Terrasse tanzten Paare zu einem quälend langsamen Beat und dem Gesang einer klagenden Frauenstimme. Vielleicht entsprach das dem derzeitigen Musikgeschmack, obwohl ich schon seit Jahren keinen vorherrschenden Stil mehr erkennen konnte, weder in der Musik noch in der Mode. Früher war das Diktat der Mode streng: Einfach alle trugen Petticoats, Miniröcke, Schlabberlook, gestickte Tiere auf den Brusttaschen oder was immer in dem entsprechenden Jahr auch vorgeschrieben sein mochte. Vielleicht bestand die heutige Mode darin, dass es keine Mode mehr gab. Wenn man so wollte, konnte man das als spirituellen Fortschritt betrachten, doch andererseits empfand ich zahlreiche Kreationen der Modeschöpfer, an denen ich im Fernsehen vorbei zappte, als Beleidigung für den weiblichen Körper und vieles in der modernen Musik lediglich als Gehör zerfetzenden Lärm. Die Musik hier war vor allem deswegen eine Erleichterung, weil sie so leise war, dass man einander verstehen konnte.
    Ich aß in Paprikasauce getunkte Blumenkohlstückchen, diskutierte meine Erkenntnisse über den Fortschritt mit einem importierten Soziologen und schlenderte mit meinem dritten, diesmal mit Whisky gefüllten Glas in der Hand umher. Irgendwann ließ ich mich aufseufzend neben Jennifer fallen, die ein wenig verloren auf dem Sofa saß.
    »Endlich ein bekanntes
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