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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid
Autoren: Felix Thijssen
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verstehen, was Tod ist, können aber das Dauerhafte daran nicht erfassen. Gleich geht die Tür auf und Mama kommt rein.
    Nel zog ihn an sich. »Alles wird gut«, beruhigte sie ihn. »Jetzt waschen wir erst mal deine Hose. Max holt Plätzchen und Limonade für dich. Weißt du, was ein Donut ist?«
    Sie gab mir mit dem Kopf ein Zeichen, und ich schlüpfte zur Kabine hinaus. Unsere Tüte lag oben an der Treppe auf dem Achterdeck. Kein Mensch weit und breit. Das Meer sah aus, als sei nichts geschehen. Eine steife Brise war aufgekommen, und hier und dort löste sich der Nebel auf. Stellenweise wurde hinter den höheren weißen Wolken blauer Himmel sichtbar. Über Spanien schien die Sonne.
    Ich eilte wieder hinunter und gab Nel die Tüte, bevor ich mich auf die Suche nach Ingrids Kabine machte.
    Sie befand sich auf demselben Deck wie unsere, ein Stück weiter hinten im Gang. Aus diesem Grund hatte sie natürlich auch dasselbe Achterdeck gewählt, um sich mit Tommy das Meer und die Möwen anzuschauen.
    Auf der Ablage über dem Waschbecken im engen Bad lagen Toilettenartikel, ansonsten hatte Ingrid nichts ausgepackt. Ihr Koffer lag neben ihrer Handtasche am Fußende einer der Kojen; der Deckel war nur lose aufgelegt. Ingrids Kleider, Unterwäsche, ein Nachthemd, ein Fön. Kleidungsstücke von Tommy.
    In der Handtasche fand ich ihren Pass und zwischen den Seiten einen gelben Memozettel mit ein paar hastig hingekritzelten Notizen: Bcla v. 16.25, Ticket am Schalter; direkt Oslo. Harvuns, Lundvik anrufen, abholen.
    Oslo?
    Sigrid hatte eine norwegische Großmutter erwähnt.
    Ich blätterte Ingrids Pass durch und fand Tommys Namen auf der Seite für mitreisende Kinder. Thomas Brack, mit der Schreibmaschine getippt, sein Geburtsdatum und -ort, Stadt Geldermalsen und ein Stempel mit einer gekritzelten Unterschrift. Falsch oder echt, ich konnte es nicht feststellen; ich sah, dass der Eintrag nachträglich hinein getippt worden war, doch das war bei Kindern wohl meistens der Fall. Wie auch immer, sie hätte mit Tommy problemlos nach Norwegen fliegen können.
    Ich räumte den Waschtisch ab und stopfte alles in den Koffer, auch Ingrids Handtasche. Nel öffnete die Tür und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Tommy lag in einer der Kojen und schlief. Ich stellte Ingrids Koffer in die Kabine und bedeutete ihr, mir auf den Flur zu folgen.
    »Er hat Donuts gegessen und Cola getrunken«, erzählte Nel mütterlich. »Jetzt muss er ein Weilchen schlafen.«
    »Ich gehe Niessen anrufen und einen Whisky trinken, falls die hier welchen haben.«
    »Ich kann ihn nicht allein lassen.«
    »Kein Problem.«
    »Was machen wir mit Ingrid?«
    »Wir müssen improvisieren.«
    Sie schüttelte den Kopf. Ein Mann ging vorbei und öffnete die Tür einer weiter entfernten Kabine, ungefähr neben der von Ingrid. Nel wartete, bis er hineingegangen war und sagte: »Wie kommen wir an Tommy? Haben wir Ingrid dafür ermordet? Wo ist Ingrid?«
    »Wir erzählen, wie es passiert ist. Sie hat Selbstmord begangen.«
    »Das weiß ich und das weißt du. Sie ist vor unseren Augen über Bord gesprungen, aber wir haben keinen Alarm geschlagen. Man muss aber Alarm schlagen, das schreibt das Seerecht vor.«
    Ich seufzte. »Wenn wir zurück sind, schreibe ich einen Brief an Peter und erzähle Sigrid, was geschehen ist. Ich glaube nicht, dass wir deswegen Probleme bekommen. Und sollte es Schwierigkeiten geben, halsen wir sie einfach Niessen und seiner Anwaltskanzlei auf.«
    Nel klopfte mir auf die Brust. »Du bist ein Optimist.«
    Ich nickte. »Ich habe mir überlegt, dass Optimismus so ungefähr die wichtigste Voraussetzung für das Überleben ist.«
    Sie schaute mir in die Augen und sagte: »Ich liebe dich auch. Ich muss zurück zu meinem Pflegekind.«
    Sie drehte sich in der Tür um, plötzlich aufgeregt, mit roten Wangen und sanftem Blick. Noch nie zuvor hatte sie für ein Kind gesorgt. Ich erkannte sofort, dass sie ihr Herz an Tommy hängen und sich nicht mehr von ihm würde trennen wollen, und dass es immer schwerer würde, je länger es sich hinzog. Sie war zwar noch keine achtundvierzig, aber immerhin sechsunddreißig, und ihre Sehnsucht nach dieser Art weiblicher Vollständigkeit drängte allmählich alles andere in den Hintergrund. »Warte«, sagte ich.
    Die Tür fiel hinter ihr zu, als ich sie an mich zog. »Niessen kann Tommy abholen kommen, in Avignon oder Marseille zum Beispiel …«
    »Warum?«
    Ich schob meine Hände unter ihre Achseln und küsste sie. »Daran
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